Reisebericht von Bernd Zillich    
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Skanderbeg: Der neue Alexander auf dem Balkan
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Alexander auf dem Balkan.
   
Albanien Pocket-Guide
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Handbuch zur albanischen Volkskultur: Mythologie, Religion, Volksglaube, Sitten, Gebräuche und kulturelle Besonderheiten (Albanian Studies, Band 12)
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Durch das Land der Skipetaren, Band 5 der Gesammelten Werke (Karl Mays Gesammelte Werke)
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Skipetaren (Karl May)
 
 
 
Donnerstag, 28. Mai
Tirana
Sich per Auto im Verkehr fortzubewegen ist in Tirana vermutlich stressiger als in Nea­pel. Fußgänger gehen an beliebiger Stelle und jederzeit über die Straße, Spur­wech­sel gleicht einem Selbstmordversuch; an den Ampeln sind bettelnde Kinder auf der Lauer, die in hohem Tempo die Windschutzscheibe reinigen; Parkplätze sind eine Fata Morgana.
Bild vergrössernNeben dem Skanderberg-Denkmal (Georg Kastriota, genannt Skan­derbeg [1405-1468] gilt als albanischer Nationalheld wegen seine Verteidigung Albaniens gegen die Osmanen) steht eine kleine Mo­schee, und gerade als ich beim Fotografieren bin, ertönt der Allahu-akbar-Ruf, der daran erinnert, dass das Land 500 Jahre unter tür­kischer Herrschaft stand.
Das ist einer der wenigen Momente, in denen ich mich von dieser Stadt angeregt fühle. Denn weder das feucht-düstere Wetter noch das Stadtbild ermuntern mich zu einem längeren Aufenthalt.
Da reicht es nicht, dass die vielen Hochhäuser und Plattenbauten Bild vergrössern beinahe alle farbenfroh und bunt gestaltet sind. Tirana ist näm­lich auch als die Stadt der bunten Häuser bekannt, was darauf zurückzuführen ist, dass ab dem Jahr 2000, als Edi Rama Bürgermeister von Tirana wurde, Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen im großen Umfang durchgeführt wurden: Illegale errichtete Gebäude wurden abgerissen und Pläne für eine sinnvolle Stadtentwicklung erstellt. Eine gezielte Begrünung wurde gestartet und die vorher grauen Fassaden bunt angestrichen.
Freilich, es gäben in diesem Land sehenswerte Orte, wie beispielsweise Berat, die Stadt der tausend Fenster, die 1961 offiziell zur Museumsstadt ernannt und 2008 UNESCO-Welterbe wurde. Oder Gjirokastra, die bereits seit 2005 zum UNESCO-Welterbe zählt. Aber diesmal ist Albanien für mich nur ein Durchzugsland, auf den Weg nach Maze­do­nien, Bulgarien und Nordgriechenland. Dort will ich den Fußstapfen meines Vaters fol­gen, der während des Zweiten Weltkriegs den Balkan intensiv als Journalist bereiste.
Richtung Südosten
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Schon donnert es und es fallen die ersten dicken Tropfen. Der Kellner schließt die Son­nen­schirme, als erwartete er, dass sie vom Wind zerfetzt würden.
Unter der Markise bin ich vor­erst sicher und kann deshalb gelassen meinen Cappuccino schlürfen, der wie gewohnt mehr nach Kakao als nach Kaffee schmeckt. Hinter den Bergen ist es heller und ich muss zugeben, dass mir diese düstere Gewitter­stim­mung besser gefällt als das undurchsichtige, feuchte und klebrige sogenannte „schöne“ Wetter der letzten zwei Tage.
Ein Sonnenstrahl kommt heraus und die Landschaft be­kommt schlagartig Konturen, Plas­tizität und Farbe. Was mich in einen der Trance ähn­lichen Zustand bringt. Auf dem Hügel hinter dem Lokal erkenne ich ein paar Bunker aus der Enver-Hoxha-Zeit.
Zwischen 1972 und 1984 wurden im damals kommunistischen Albanien unter der Herr­schaft von Enver Hoxha an die 200.000 Bunker erbaut, die der Verteidigung des Landes im Falle einer Invasion dienen sollten. Die überall sichtbaren runden und an Pilze erin­nern­den Pillbox-Bunker sind heute noch ein Symbol der Paranoia des damaligen Regi­mes. Albanien hatte 1961 mit den sozialistischen Staaten Osteuropas gebrochen und war 1968 als Reaktion auf den Einmarsch in die Tschechoslowakei auch aus dem War­schau­er Pakt ausgetreten. Die Machthaber in Tirana fürchteten sich sowohl vor den ehe­ma­ligen kommunistischen Verbündeten als auch vor den amerikanischen und bri­ti­schen Imperialisten. Alle Nachbarn galten als Feinde.
Es ist schön zu hören, wie das Donnern immer leiser wird und das Regnen zum Tröpfeln wird. Wenn gerade kein Auto vorbeifährt, hört man nur noch dieses leise grollen, das Tröpfeln und das Zwitschern verstreuter Vögel.
Ich fahre stundenlang durch eine karge, mediterrane, an Griechenland erinnernde Land­schaft. Alte Olivenbäume, gedämpfte Farben, unscheinbare Dörfer. Häufig sehe ich Kir­schenverkäufer an Straßenrand und, quasi als Markenzeichen der Einstellung der Al­ba­ner zum Automobil, immer wieder Gedenkkreuze/-steine bei Unfallstellen. Es wird ge­rast auf Teufel komm raus! Mehr als einmal sehe ich ein Unfallauto – natürlich ein Mer­ce­des! –, das gerade abgeschleppt wird.
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Es wird grauer und dunkler. Ich fahre und fahre, und in meinem Kopf dreht sich alles nur noch um die Frage, ob ich noch einmal in diesem Land übernachten soll oder lieber ver­suchen, gleich nach Mazedonien zu kommen. Als ich weiter nach Norden komme, verliert die Landschaft ihren mediterranen Charakter, die Erde wird rot, die Vegetation dichter, Laubwälder aus Ahornen, Pappeln und Eichen säumen jetzt die Fahrbahn, die Bergflanken werden steiler, das Licht geheimnisvoller und der Gedanke, hier einer letzte Nacht zu verbringen, nimmt Konturen an. Freilich, die Hoffnung auf die „traditionelle albanische Gastfreundschaft“ in einem kleinen Dorf schwindet dahin, als weder eine der alten Frauen, die in der Nähe von der Straße ein paar Kühe hüten, noch einer der Män­ner, die am Straßenrand hocken, Anstalten machen, mich zu ihrer Großfamilie nach Hause einzuladen.
Përrenjas
Stattdessen erlebe ich den gesichtslosesten Ort, den ich bereit bin, zu ertragen. Als ich in Përrenjas ankomme, bin ich entsetzt wegen dessen Tristesse. Die Trostlosigkeit der he­run­tergekommenen Wohnblocks, das Fehlen eines jeglichen Zentrums und der de­so­late Zustand von fast allem, sind ein bisheriger Tiefpunkt meiner Reise.
Ich finde diese Tristesse auch in der Kleidung der Menschen, die ich begegne, und ich meine, sie auch in deren Gesichtern zu erkennen, die – so der erste Eindruck – eine stumpfe Resignation ausstrahlen. Ich habe das Gefühl, auf Menschen gestoßen zu sein, denen das Grundsätzliche an Befähigung, Kraft und Persönlichkeit fehlt, die es ihnen er­mög­lichen könnten, diesem Ort zu entkommen. Denn: Wer bleibt den freiwillig in solch einer Trostlosigkeit?
Was für eine Überraschung aber, als ich junge Mädchen sehe, die diesem depri­mie­ren­den Eindruck völlig entgegenstehen! Im Gegensatz zu den gleichaltrigen Jungs, die durch ihre amerikanisierte, verschlissene und unelegante Kleidung und ihre Macho­at­ti­tuden meine Vorurteile nur bestätigen, wirken die Mädchen frisch, reizvoll, sauber, mo­disch und geschmackvoll gekleidet. Als hätte die Verwahrlosung einen großen Bogen um sie gemacht.
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Als ich durch die Straßen schlendere, begegne ich einen schlanken, graubärtigen Herrn mit blauen Augen und feinen Gesichtszügen. Er sei Amerikaner und lebe seit 1992 in Al­ba­nien und seit einiger Zeit mit Frau und Kindern hier in Përrenjas, so stellt er sich mir vor. Da ich mir Letzteres kaum vorstellen kann, frage ich neugierig nach den Um­stän­den, die ihn hierher ver­schla­gen haben. Er sei hier im Auftrag einer karitativen christ­li­chen Ge­sell­schaft, um dem Menschen hier zu helfen, ist seine Antwort. Aha! Wieder so ein Mis­sio­nierungsfall wie in Žabljak, denke ich. Offensichtlich haben Evangelikale in ehemals kommu­nis­ti­schen, also atheistischen Ländern Konjunktur!
Als ich ihn frage, ob denn seine Kinder hier in Albanien zur Schule gegangen seien, ver­neint er. Seine Frau und er selbst hätten sie unterrichtet. „Home teaching“ sei sowieso besser als der Unterricht in einer öffentlichen Schule! Dieses Stichwort lässt ihn mir als Zugehörigen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage vermuten, einer Glau­bens­ge­mein­schaft, die zur Konfessionsgruppe der Mormonen gehört. Einer nach dem anderen hätten die Kinder das Land verlassen, fährt er weiter.
Zum ersten Mal seien er und seine Frau allein. Eine neue, anregende Erfahrung! Als ich ihn frage, wie sie denn den Menschen im Lande helfen, meint er: „Bei preaching the word of God!". Selbst­ver­ständ­lich gebe es auch materielle Unterstützung, aber er be­mühe sich, das Materielle vom Immateriellen zu trennen, um die Käuflichkeit der Men­schen abzuwehren.
Als wir uns trennen, verabschiedet er sich mit: „God bless you!“ Ich hätte es nicht ge­glaubt, aber dieser Satz, der mich als Agnostiker eigentlich kaum beeindrucken soll­te, rührt mich zu Tränen. Weil ich auf einem Schlag den Abgrund erkenne, der uns beide trennt. Ich kutschiere hier von einem Ort zum anderen, mich treibt in der Hauptsache Neugierde, eine unbestimmte Erlebnislust, die stressige Suche nach dem „guten Foto“ – und alles auf einer ziellosen Art, die vieles von dem erklärt, was mich unzufrieden macht. Die Zielorientiertheit und die ruhige Gewissheit dieses Mannes hingegen, sie machen mich baff, sie serviern mir meine Zerrissenheit und meine Ziellosigkeit auf einem silbernen Tablett und lassen mich an mir zweifeln.