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Prachover Felsen
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Parkhotel Skalný město im „Böhmischen Paradies"

Diesmal war es aber knapp. Die Verkehrsschilder waren so unübersichtlich und ungeschickt angebracht, die Umleitungen so schlecht beschildert, dass man im Nu in eine ganz andere Richtung unterwegs ist, als man wollte, und eine Fahrt auf Nebenstraßen zum Vabanquespiel wird.

Damit will ich sagen, dass die Fahrt hierher, ins so genannte „Böhmische Paradies“ spätestens nach Anbruch der Dunkelheit in völligem Stress endete. Und sogar als ich bereits in Jičín war - also theoretisch schon fast am Ziel - verfuhr ich mich noch drei, vier Mal und konnte nur dank meiner ausgezeichneten Straßenkarten und meinen „exzellenten“ Kenntnisse des Tschechischen den richtigen Weg finden. Ehrlicher ausgedrückt: Der freundliche Tankwart erklärte mir alles auf Deutsch.

Immerhin: Mit meinem üblichen Dickschädel, der mir unablässig gebietet, niemals in einem hässlichen Ort zu übernachten, habe ich es bis hierher geschafft, zum vornehm aussehenden Parkhotel Skalný Město, mitten im Wald, in einem landschaftlich einmalig schönen Gebiet.

Leider hat die Sache ein paar Haken. Das Zimmer hat den Charme eines Krankenhauses, ist nur für eine Nacht frei und, Wunder der Marktwirtschaft, kostet das Fünffache meiner gestrigen, zweifellos gemütlicheren Unterkunft.

27. August
Prachovske Skaly (Prachover Felsen)

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in der Nähe von Turnov Mi­ne­ral­quellen entdeckt, was im Jahre 1841 zur Gründung des ersten Was­ser­heil­kur­orts führte. Etwa zwanzig Jahre später äußerte einer der vielen pro­mi­nen­ten Gäste beim Anblick der bizarren Felsenformationen aus Basalt, die hier in Jahrmillionen durch Ero­sion entstanden sind und in großer Anzahl die Landschaft prägen, einen denk­wür­di­gen Satz: „Diese Felsen, das ist wahrlich ein Paradies". Seit diesem Zeitpunkt wird diese Gegend das Böhmische Paradies (český Ráj) genannt.

Zentraler Anziehungspunkt des Böhmischen Paradieses sind die Prachover Felsen, die 7 km von Jičín entfernt liegen, und fast mit Sicherheit das bekannteste Fel­sen­ge­biet der Tschechischen Republik darstellen. Sie wurden bereits 1933 zum Na­tur­re­ser­vat erklärt und sind seit langem ein großer Anziehungspunkt für Touristen und Kletterer. Die Prachover Felsen erstrecken sich auf einer Fläche von 187 ha und ergeben das Bild einer überwältigenden Felsenstadt, die über 200 große Felstürme sowie eine Unzahl weiterer Felsen zählt.

Mit der Trägheit, die mir nach 2500 im Auto gesessenen Kilometern tief in den Kno­chen steckt, quäle ich mich die steilen SteintreppenBild vergrössern hinauf durch die engen Schluchten dieser „Felsenstadt". Sie ist, wie konn­te es anders sein, bestens „er­schlos­sen". Man betritt sie - wenn man Pech hat gleichzeitig mit ganzen Busladungen von anderen Leidgenossen - über einen zah­lungs­pflich­tigen Eingang bei der Touristenbaude. Dort bleibt glück­li­cher­wei­se die Hälfte der Be­su­cher gleich hängen, um sich auf echte „böhmische“ Spezialitäten wie hot dogs, grilovaný párek (Grillwürstel) oder špagety zu stürzen, sich mit Souvenirs und Ansichtskarten einzudecken und vor den Toiletten Schlange zu stehen.

Touristenwege führen überall hin, sowohl durch das untere Gängelabyrinth, als auch auf die Höhen der felsigen Kämme. An den schönsten Stellen gibt es Aus­sichts­terrassen mit Gruppen von Polen oder Sachsen in kurzen Hosen, die herr­li­che Blicke auf Köpfe und grellfarbige Anoraks ermöglichen. Einsamkeit, du bist ein reg­nerischer Novembertag!

Hin- und hergerissen zwischen der Begeisterung für diese wahrhaftig grandiose und bizarre Landschaft und dem Fluchtreflex, schleppe ich mich, in der Hoffnung, we­nigstens ein schönes Foto zu ergattern, mühsam die Pfade entlang. Leider will mich der Wettergott für die bösen Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, bestrafen und verschafft mir einen grauen, düsteren Himmel.

Nach dem Besuch der Felsenstadt fahre ich stundenlang kreuz und quer durch die sanfte Landschaft des Tschechischen Paradieses auf der schwierigen Suche nach einem Grund - dem Schlechtwetter zum Trotz - zum Bleiben.

Die Luft ist erstaunlich klar und ein Wolkenspiel, würdig eines schönsten Früh­lingstages, beginnt die Landschaft zu verzaubern und mein Gemüt zu beruhigen. Und ich fahre durch Dörfer, die endlich jene Qualität inne haben, nach der ich mich gesehnt habe. Keine bemerkenswerte Ensembles, wohlbemerkt, aber lauter Puppenhäuser von Anno dazumal, in einer leicht welligen grünen Landschaft eingebettet, zwischen kleinen Weihern und Bächen gelegen und immer wieder mit diesen bizarren Felstürmen im Hintergrund.

Später am Nachmittag, in Hrubá Skála

Und jetzt sitze ich auf dem Balkon meiner „Pension“ – es ist eher ein Einfamilienhaus mit Zimmervermietung und Toilette auf dem Gang – und lasse mir die schüchterne Sonne ins Gesicht scheinen. Das Gegenlicht verleiht dabei den Geranien kräftig leuchtende Konturen. Vom Nachbarhaus erreichen mich Kinderstimmen und das Quietschen einer Schaukel. Während mein Pullover zum Auslüften an der Wäscheleine hängt und ich müde und zufrieden in einem Wörterbuch blättere, warte ich auf das Kommen meiner Gastgeberin, der Babicka (Großmutterchen) mit dem Tante-Martha-Lächeln. Bild vergrössernSie will mich abholen und ein Stück mit mir auf dem Weg in Richtung Schloss gehen, weil all ihre tapferen Versuche, mir den Weg mit Worten zu erklären, an meinen zu geringen Kenntnissen des Tsche­chischen geschei­tert sind. Und nur oben im Schloss soll es eine Mög­lichkeit geben, zu Abend zu essen. Immerhin kommt dadurch eine klei­ne Konversation zustande, und langsam und noch sehr zäh kann ich etwas von dem Wissen her­vor­holen, das ich fast als verschollen gegeben habe. Es versetzt mich in die Lage, einfachste Sätze wie „Haben Sie ein Zimmer für eine Person?", „Wenn das Wetter schön wird, bleibe ich zwei Tage.“ oder „Ich hole jetzt das Auto, kann ich hier parken?“ in dieser schweren Sprache einigermaßen korrekt und verständlich zu formulieren.

Es sieht fast so aus, als würde mein Urlaub wie bei einem Feuerwerk mit einem Grande Finale seinem Ende entgegengehen.

Hoch auf den Sandsteinfelsenklippen, an der Stelle der ursprünglichen gotischen Burg aus dem 14. Jahrhundert steht das zum Renaissanceschloss umgebaute und in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder regotisierte Schloss Hrubá Skála. Am äußersten Rand der Sandsteinklippe gesellt sich ihm auch eine in romanischer Gotik gebaute Kirche, mit der es über eine Verbindungsbrücke mit wertvollen Barockstatuen ver­bun­den ist. Ein herrliches Ambiente!

Auf dem Gelände befindet sich heute zwar ein Hotel, aber der Zutritt zum Schlosshof und zum Turm, die eine herrlichen Aussicht auf das Panorama des Böhmischen Paradieses gewähren, ist der Öffentlichkeit gestattet.

Von dem Augenblick an aber, in dem ich das auch für nicht Hotelgäste zugängliche Re­staurant betrete, beginnt bereits die Entzauberung. Kostbare Stuckarbeiten, De­cken­balken und edel wirkende Kristallleuchter geben dem festlichen Saal zwar ein ge­wisses Flair, aber wie so oft in den ehemaligen kommunistischen Ländern ist die Ein­rich­tung von fantasieloser, ernüchternden Eintönigkeit geprägt. Es fehlen gemütliche Nischen und eine behagliche Beleuchtung, und die Tische, Massenware aus einem spießigen Einrichtungshaus, sind in langen Reihen aufgestellt wie in einem Bahnhofrestaurant. Eine verheerende Akustik macht auch noch jegliche Chance auf gelegentliche Geselligkeit den Garaus.

Aber auch das Essen bringt den erwartungsvollen Gast auf den harten Boden der Tatsachen. Könnte man sich vorstellen, dass die Speisekarte eines guten Restaurants in der Toskana zum großen Teil aus Wienerschnitzeln, Naturschnitzeln, Jägerschnitzeln, Grillteller, Steaks, Forelle Müllerin und ähnlichen sogenannten internationalen Gerichten bestünde? Selbstverständlich nicht. Aber genau das scheint in Tschechien passiert zu sein. überall die selbe Litanei auf den Speisekarten. Allenfalls Schweinsbraten „böhmische Art“ und svičkova (Rinds­filetbraten) als böhmische Vorzeigegericht fehlen nicht.

Nur in manchen dunklen Spelunken, wo die Werktätigen ihr Mittagessen einnehmen, gibt es noch die deftigen, annähernd böhmischen Gerichte, leider sind diese aber oft mit Knödeln aus der Packung verzubereitet und schwimmen in dicken undefinierbaren Soßen.

Also doch kein Feuerwerk? Aber ja. Es ist draußen. Es ist ein stilles Feuerwerk, ein Streicheln der Seele. Es Bild vergrössernsind Ein­drücke, die von unscheinbaren, un­auf­fäl­ligen Dingen erzeugt wer­den, die mir aber um so tiefer unter die Haut gehen.

Was es ist? Die klare Luft, die das grau-diesige Wetter vom Vormittag abgelöst hat? Der Himmel, der plötz­lich gänzlich wolkenfrei ist? Die kleinen Gärten voller Apfel- und Zwetsch­genbäumen unter den letz­ten, tiefen Strahlen der Sonne? Die Silhouette der Burg? Und was noch? Es ist vielleicht dieser unmittelbare Kontakt mit der kleinen, alltäglich normalen Dorfwelt, in der all die Künst­lichkeit der Touristenwelt völlig zu fehlen scheint.

Als ich erfahre, dass in diesem (einzigen) Restaurant im Ort erst ab zehn Uhr morgens gefrühstückt werden kann, bricht bei mir für kurze Zeit etwas Hektik aus. Denn ich werde mich um mein Frühstück selber kümmern müssen. Der Lebensmittelladen ist natürlich bereits geschlossen. So scheint meine Gastgeberin meine letzte Chance zu sein. Ich blättere hastig im Wörterbuch und versuche mühsam, all die tschechischen Sätze zusammenzustellen, die mir helfen könnten, das Problem zu lösen.

Mužete prosím řikat, kdy otevři potravinani (Können Sie mir bitte sagen, wann das Lebensmittelgeschäft öffnet)? Musím snídanit doma, protože restaurace otevři jen deset hodin (ich muss zu Hause essen, weil das Restaurant erst um 10 Uhr öffnet). Mužete prosím take dat mi taliř, nuž a kotelu na vodu (können Sie mir bitte auch einen Teller, ein Messer und ein Wasserkochtopf geben)? So vorbereitet klopfe ich an ihre Tür – und werde sofort mit einem Wortschwall voller Lächeln überschüttet. Aber ich könne doch selbstverständlich alles von ihr bekommen, strahlt sie mich an. Und schon habe ich die Hände voll mit Butter, Marmelade, Tee, Zucker und einem halben Brotlaib. Geschirr und Besteck, sowie ein kleiner Gaskocher seien sowieso im Gästezimmer.

28. August
Hrubá Skála, frühmorgens

"Mir ist warm, mir ist warm, mir ist warm, mir ist warm!“ – so oder ähnlich hört sich mein Selbsthypnose-Versuch an, denn der Himmel ist wieder grau in grau, und die be­schei­dene Temperatur im Zimmer bringt mich zum Frösteln. Ich versuche es bes­ser mit einem heißen Tee und ein paar Kniebeugen.

Zum Glück macht mir das Wetter nicht viel aus, denn ich bin sowieso wandermüde, reisemüde, fotografiermüde und brauche einen Ruhetag zum Schreiben und für das, was ich von Anfang an vor hatte, das Lernen der Sprache.

Etwas später

Versunken wie ich war im schreiben, habe ich nicht gemerkt, dass sich die Sonne wieder durchgesetzt hat. Also Wanderschuhe an und nichts wie raus.

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