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Branná - Goldenstein
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Šleglov (Schlögelsdorf)

Da war dieses kleine Dorf, Branná (Goldenstein), dessen spitze Türme ich schon aus der Ferne sah, und das mich sofort und unwiderstehlich anlockte. Also musste ich weg von der Straße und mit unwiderstehlicher Neugierde hinein in das 400-Einwohner-Nest. Es war die Überraschung des Tages. Bild vergrössernEin Dorf, wie es im Bilderbuch steht. Ein paar sozialistische Un­schönheiten konnten dem Ensemble nichts an­haben, seine Stille nicht stören. Kein geparktes Auto, welches das Ensemble des Kirchplatzes störte, keine laute Popmusik, nur ein paar Kinder, die mit ihren Stimmen das Leben versinn­bildlichten. Die Wohnhäuser waren mit ihren blumenreichen Vor­gär­ten, dem herumlaufenden Geflügel, den Gemü­se­gär­ten und den teilweise bunt bemalten Fassaden die reinste Idylle.

Ein Ort zum bleiben, eine Nacht, zwei Nächte, viel­leicht mehr, dachte ich. Aber es gab einen Haken: weit und breit war kein Restaurant aus­zu­ma­chen, und schon gar kein Hinweis auf Zim­mer­ver­mie­tung. Endlich, nach langem Herum­gehen, doch ein zweisprachiges Schild. Auf Deutsch stand darauf „Möglichkeit zu Über­nachtung". Ein schwarzer, grim­mig aussehender Hund fing gleich an zu bellen. Von Menschen aber keine Spur. Endlich: in einem Garten nebenan eine Frau. Beim Versuch, meine Wünsche auf Tschechisch zu formulieren, scheiterte ich kläglich, aber sie sprach Gott sei Dank auch etwas Deutsch.

Leider habe sie in ihrem Haus keine Zimmer mehr frei, sagte sie, und auch die Unterkünfte der Nachbarn seien bedauerlicherweise bereits belegt. Denn die Hoch­saison sei noch nicht zu Ende. Es kämen meist Stammgäste aus den neuen Bun­des­ländern. Lange voraus gebucht. Etwas später, als ich alle Hoffnungen bereits auf­ge­ge­ben hatte, nannte sie mir eine kleine Pension – in einem Nachbardorf. Sehr ruhig und modern soll es dort sein.

Wenn ich das Wort „modern“ nur höre, sträuben sich mir schon die Haare. Aber was konnte ich tun? Es war bereits sechs, und auf eigene Faust weiterzusuchen hätte womöglich keine besseren Resultate ergeben.

Und da bin ich also, in diesem Drei-Häuser-Dorf, das wohl kaum auf einer Straßenkarte zu finden ist.

Die Chata Královec [] ist, wie erwartet, modern. Alles ist neu, als wäre es erst gestern eingeweiht worden. In einer Ecke des Restaurants wurde etwa im Stil einer städtischen Diskothek eine Bar eingerichtet.

Kaum geht man freilich über die Türschwelle ins Freie, schon ist es mit dieser Moderne vorbei. Es herrscht absolute Stille: drei Bauernhäuser (oder vielleicht ein paar mehr), eine Ruine, ein Kirchlein, Kinder die, als ich vorbei gehe, freundlich dobry den zwitschern und anschließend konspirativ kichern.

Frühstück müsse ich mir allerdings selbst machen, dazu könne ich bei ihr Brot und weitere Lebensmittel kaufen. Die Frau hinter der Theke ist freundlich und reicht mir gleich eine entsprechende Liste in deutscher Sprache. Als ich auf die tschechische Liste bestehe, grinsen alle Anwesenden. Der einheimische Beau, der bis zu diesem Zeitpunkt traurig an der Theke sein Bier geschlürft hat – das hiesige Nachtleben ist erwartungsgemäß etwas begrenzt –, trägt dabei seine weniger hollywoodmäßigen Zähne zur Schau. Immerhin habe ich eine Gelegenheit, an meinen Sprachkenntnissen zu arbeiten. Die Bedienung Bild vergrössern ist freund­lich und geduldig und kor­ri­giert mich bereitwillig, wenn die Endung des Akkusativs oder des Genitivs nicht ganz hinhaut.

Hat man sich nur einmal ein­ge­wöhnt und ein Bierchen hinunter gekippt, da scheint einem die Wirts­stube am Ende sogar ein bisserl gemütlich. Ein mit Holzscheiten voll beladener Kamin trennt rein optisch die Bar von den vier Tischen des Essbereichs, aber das Flimmern eines Fernsehapparates führt sie wieder zusammen, und während ein ausge­stopfter Mufflonkopf gleichgültig von einer Wand herab starrt, zieren andere Jagdtrophäen die weiteren, teilweise aus unverputztem Stein be­ste­hen­den Wände und geben dem Raum eine rustikale Note.

Zu späterer Stunde sitzen nur noch drei Gäste an der Theke, die sich sehr angeregt mit der Bedienung unterhalten: ein Paar in Jeans und Lederjacke (die Ortsschickeria) und ein einzelner junger Mann, dessen Blicke ziemlich teilnahmslos zwischen seinem Bier und dem Fernseher hin und her wandern. Es haftet etwas Einsames an ihm.

In der Flimmerkiste läuft ein Schwarzweißfilm, der im alten Böhmen spielt und von einer hübschen und lebenslustigen Frau handelt, die ihren Mann, einen nicht mehr ganz jungen Brauereibesitzer, nach Strich und Faden betrügt. Zeitweilig sind alle Augen im Raum auf das Gerät gerichtet, das Gespräch verstummt, es wird gespannt eine Szene verfolgt, es wird gelacht, dann wendet man sich wieder ab und kehrt zur Konversation zurück.

Vor dem Schlafengehen zieht es mich noch einmal an die frische Luft. Gespenstisch beleuchten die gelben Straßenlampen das Haus gegenüber, die nächstliegenden Bauernhöfe und einen mit Baumstämmen beladenen Lastwagen, der wie eine schla­fende Riesenheuschrecke träge am Straßenrand steht. Der Holzfeuerrauch, der aus manchem Schornstein steigt, gibt der Luft einen säuerlich-herben Geruch, der zwar mei­nen Hals reizt, es aber auch schafft, eine Stimmung von uralten Zeiten her­bei­zuzaubern.

Eine Biegung der Straße weiter ist der beißende Geruch bereits verschwunden und es herrscht stockfinstere Nacht.

Langsam gewöhnen sich meine Augen an diese Dunkelheit, aber ich kann kaum wahrnehmen, wo der Asphalt aufhört und wo die Wiese beginnt. Bäume, dunkle Schatten gegen den klaren Sternenhimmel, säumen den Weg und machen ihn noch schwärzer. Ich bleibe ehrfürchtig stehen, es ist vollkommen still. Nur die letzten Grillen, die nicht wahr haben wollen, dass der Sommer vorbei ist, wagen ein schüchternes Zit-zit, Zit-zit. Aber welch ein Unterschied zum alles übertönenden Zirpen warmer Sommertage. Manchmal, wenn der Wind mit seinem leisen Hauch die Blätter der Pappeln streichelt und ein Rascheln durch die Luft geht, fahre ich plötzlich zusammen.

Weißt du wie viel Sternlein stehen ... Mir ist wieder nach Kindheit zu Mute.

Wie oft, frage ich mich, habe ich wirklich seit jener entfernten Vergangenheit so einen Sternenhimmel gesehen, ich meine, bewusst gesehen, in dieser Klarheit, mit dieser Intensität, bei dieser Dunkelheit? Zwanzig, dreißig, fünfzig Mal? Mehr waren es sicher nicht.

Und wenn ich daran denke, dass in den Hunderttausenden von Jahren, in denen es Menschen als solche gibt, die Nächte von ihnen immer und ausschließlich so erlebt wurden, als geheimnisvolle, Angstmachende, wohltuende, unendliche, un­aus­weich­liche Dunkelheit, nur von den Sternen oder vom Mond erhellt, dann weiß ich, was uns unsere sogenannte Zivilisation genommen hat und um welches Erbe ich mich betrogen fühle.

Und siehe, kaum habe ich diese Gedanken ausgedacht, schon fällt eine Stern­schnuppe, und gleich eine zweite, und wenn ich mit den Augen auch nur ein wenig zwinkere, fangen auch alle anderen Sterne an zu zwinkern, als wolle der Himmel an diesem Augustabend explodieren.

26. August
Chata Královec in Šleglov

Die Situation entbehrt nicht einer gewissen Komik. Hier in einer einsamen Pension am Rande des Altvatergebirges brate ich mir zwei Spiegeleier und koche mir einen Tee, alleiniger Gast in einer Küche, in der alle Schubfächer mit Hängeschlössern versehen sind, in einem Haus, in dem ich offensichtlich der einzige Übernachtungsgast bin. Nur vom Parterre her hört man leise Stimmen. Im Kühlschrank stehen schön geordnet auf einem Tablett, das Brot, die Butter und all das, was ich gestern (auf Tschechisch) bestellt habe, sogar ein kleines Kännchen mit Öl zum Braten. Beim zweiten Ansehen erscheint mir die Pension sogar recht hübsch, in meinem Zimmer schmücken Deckenbalken das Plafond, die Räume sind mit Stilmöbeln in dunklem Nussbaum eingerichtet, es wirkt rustikal und gemütlich. Befände sich das Haus in Kolstein, würde ich mit Freude ein paar Tage hier bleiben.

Das Haus gibt sich professionell: Die Chefin hat einen Computer und es gibt sogar Zuckerbeutel mit individuellem Werbeaufdruck. Das einzige Manko: Es gibt nur Gemeinschaftstoiletten und -bäder, in meinem Zimmer gibt es nicht einmal ein Wasch­becken. Schwer vorstellbar, dass sich beim Fehlen solch eines selbstverständlichen Komforts die Investition jemals rentieren könnte, jedenfalls nicht, wenn man auf Touristen aus dem Westen setzt.

Unterwegs im Adlergebirge (Orlické Hory)

Schon wieder erlebe ich eine angenehme Überraschung. Das Städtchen Králiky (Grulich) ist fast intakt, teilweise schön renoviert, mit einem schönen, großen Haupt­platz, in dessen Mitte, im Schatten ehrwürdiger Bäume, eine Madonnenstatue auf einem Brunnen thront.

Aber ich will ins Gebirge. So fahre ich zügig weiter in Richtung Westen, meistens entlang Nebenstraßen, die nicht allzu weit von der polnischen Grenze verlaufen. Es ist eine herrliche, weite, sanfte Landschaft, die zwar im Charakter anderen in Mitteleuropa ähnelt, doch im Gegensatz dazu fast unbewohnt ist, verlassen wirkt, deren Straßen noch oft von Alleebäumen gesäumt sind, und wo die Menschenhand nur an den wenigen bebauten Feldern zu erkennen ist. Ihre fast unberührten, verstaubten Dörfer, denen die Regimezeit zwar manchmal ein paar graue Wohnklötze hingestellt hat und einige Löcher ins Ortsbild gerissen hat, haben noch eine Eigenschaft behalten, die schwer definierbar ist, denn der Begriff „heile Welt“ wäre für die Armut hier ein Hohn und „verträumt“ suggerierte mehr Schönheit als diese armseiligen Siedlungen, an denen seit Jahren kaum was getan wurde, ausstrahlen können.

Was also? Museumsstücke vielleicht aus einer anderen Zeit, wie der ausgestopfte Wolf, den ich im Museum von Grulich gesehen habe. Das Wetter ist wieder grau in grau.

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