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Störche
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23. August
Bericht über eine unvergessliche Nacht!

Ein weiteres Tum-tum-tum-Erlebnis erwartete mich. Damit meine ich die Hochzeitsfeier, die im Restaurant des Hotels Renesas (Renaissance), exakt unterhalb meines Zimmers stattgefunden hat. Angefangen am frühen Abend, ausgeklungen etwa um sechs Uhr morgens. Mit einer Lautstärke wie die der Trompeten Joshuas. Gut (aber nicht ausreichend), dass ich Ohrenstöpsel bei mir hatte. Ich will es kurz machen: Als ich in der Früh aufwachte – aber hatte ich überhaupt geschlafen? – war ich gerädert und übelst gelaunt. Und draußen regnete es bereits wieder.

Auf meine Beschwerde hin konnte die Frau an der Rezeption plötzlich kein Englisch mehr. Pech für sie, dass ich meine Laune unbedingt mit einem kleinen Sieg retten wollte, was hieß: ich weigerte mich standhaft, die 120 Sloty für die Nacht zu bezahlen. Zumal ich beim Einchecken nicht auf die Feier aufmerksam gemacht worden war. Ich ließ nicht locker – und es lief, nach Hinzuholen des Managers, auf den halben Preis hinaus.

Der Frühstückstisch-Nachbar formuliert es treffend. Die Menschen in diesen Ländern setzen Demokratie mit „man darf alles tun“ gleich. Und er muss es ja wissen, denn schließlich lebt er seit vier Jahren in Polen, wo er im Rahmen eines britischen Regierungsprogramms Mathematik unterrichtet.

On the road again

Nach dem nächtlichen Regen ist die Luft klar, es ist windig und die Wolken ziehen eilig über den blauen Himmel. Die Sonne kommt und geht. Der Herbst ist da.

Ich fahre wieder in Richtung Westen. Als ich durch das kleine Dorf Zwierzyniec durchfahre, sehe ich Alt und Jung in Scharen aus einer Kirche strömen und überlege dabei, wie sehr das Klischee des starken Glaubens in Polen wohl noch stimmen mag - Madonnenstatuen am Straßenrand, Fotos des Papstes an den Wänden, volle Kirchen.

Als ich ein Bauernhof als Hintergrund von mannshohen Sonnenblumen foto­grafiere, begrüßt mich ein alter Mann freundlich, verwickelt mich in ein Gespräch – eher ein Versuch eines Gesprächs – und führt mir stolz seine drei Brocken Deutsch vor: „robotajet = arbeiten, chata = Haus, chleb = Brot", sagt er. Bild vergrössern

In dieser Gegend, nahe dem Szczebreszynsky park krajobrazowy sieht man auch vermehrt kleinen Holz­häuser, die auf lokale Bautradition erinnern, mit viel Blumen auf den vorgelagerten kleinen Ra­sen­flä­chen. Ein Fleckchen Polen, wie ich es mir vorgestellt habe.

Es regnet. Ich fahre auf Nebenstraßen, um den Die­selabgasen der großen LKWs zu entgehen und das dörfliche Polen erleben zu können. Hier, fernab der Hauptverkehrswege sieht man des öfteren Men­schen, die zu Fuß die Landstraße entlang von einem Ort zum anderen gehen, Radfahrer, die offensichtlich nicht beim Wochen­endausflug sind, Trabis und klei­ne FIATS von vorgestern und sogar noch seltene Pferde­fuhrwerke.

Rumps, ist mein Auto über ein tiefes Loch auf der Fahrbahn gerumpelt. Die Frost­schäden sind wohl seit Gomulkas Zeiten nicht mehr beseitigt geworden.

Rast irgendwo unterwegs

Tum-tum-Musik aus dem Lautsprecher, Plastikblumen auf dem Tisch, Plastik-Efeutute an den Wänden. Ich bestelle Klebasa smasona (Bratwurst).

S chlebem?“, werde ich gefragt. Und ich freue mich wie ein Kind, dass ich es ver­standen habe und mit tak (ja) antworten kann. So bekomme ich erwar­tungsgemäß eine Scheibe Brot dazu. Soweit also mein Polnisch.

Langsam schleicht sich das Gefühl bei mir ein, dass ich es heute nicht mehr bis zur Grenze schaffen werde: zu sehr ziehen sich diese Landstraßen hin, und zu groß ist das Rätselraten an jeder Kreuzung.

In Richtung Westen

Und so, fast unvermeidlich, kommt der Stress wieder auf mich zu. Ich zweige von der Hauptstraße nach Krakau ab, Bild vergrössernin Richtung Novy Strasz. Dieser Landstrich an den Ausläufern der Tatra nennt sich Beskiden.

Im Gegensatz zur Hinfahrt ist die Luft messerklar, die Sonne hat sich durchgesetzt und lässt die Schönheit der Gegend endlich zur Geltung kommen. Nur: Es ist bereits sechs Uhr vorbei, mein Benzin droht aus­zugehen und eine Über­nachtungsgelegenheit muss ich auch noch finden. Es ist Sonntag und von Tankstellen finde ich keine Spur. Von Zimmern gar nicht zu sprechen.

Gleich hinter der tschechischen Grenze – ich weiß es – wimmelt es nur so von Schildern „Zimmer frei", aber hier - keine Chance.

Der Benzinzeiger geht bedrohlich nach unten und an die Landschaft – ach wie schön ist sie in diesem späten goldenen Licht – kann ich jetzt zwangsläufig wenig Gedanken verlieren. Auf der Staatsstraße 7, die von der slowakischen Grenze nach Krakau fährt, ist die Hölle los. Es ist Wo­chen­endstau. Gut, dass ich nach Süden will.

Ich bete jetzt zu allen Heiligen, dass mir der Treibstoff nicht ausgeht. Und sie erhören mei­ne Stimme. Als ich in Rabka ankomme, dämmert es bereits. Aber da ist auch schon eine Tankstelle.

Und gleich danach finde ich dieses ansprechende Motel na Zbójeckiej [], das etwas abseits der Hauptstraße liegt.

Und bevor ich mich ins Restauracia zurückziehe, gehe ich noch zwei Schritte in Richtung Sonnenuntergang. Der ist natürlich längst vorbei, aber ein fader rosa Schein dringt noch durch die dunklen Streifen der übrig gebliebenen Wolken.

Nur ein Feldweg - und ich bin am Waldrand. An einer Feuerstelle auf einem Acker glühen noch die Scheite. Es riecht nach Rauch. Mich fröstelt es. Ich wärme meine Hände an der Glut. Ab morgen werde ich mich (so der Vorsatz) nur noch erholen.

24. August
In den schlesischen Beskiden

Ein orkanartiger Föhnsturm fegt über die Landschaft. Der Himmel ist grau und ein hellblauer Streifen gibt im Süden die Sicht auf die Gipfel der Tatra frei. Das ist eine Art Wetter, die im Handumdrehen meine Laune hebt.

Ich habe keineswegs die Absicht, so viele Kilometer wie gestern abzufahren. Ich nehme mir bewusst vor, nur die Fahrt an Bild vergrössern sich zu genießen.

Und obwohl ich im Prinzip vorhabe, zurück nach Tschechien zu fahren, fühle ich mich jederzeit auch dazu be­reit, diese Pläne ad hoc zu ändern.

Das Kilometerfressen ermüdet. Es ist gut, um Eindrücke zu sammeln, nicht zum Vertiefen. Ich habe jetzt mehr das Bedürfnis, Menschen und Natur aus der Nähe zu erleben.

Also fahre ich los in Richtung Bielsko-Biała, zu den Ausläufern der Schle­sischen Beskiden, aber im Grunde ohne Ziel.

„Ich siebzehn Kilometer vor Paris geboren", erzählt die alte Frau, die mich beim Fotografieren angesprochen hat, und sie kämpft dabei mühsam um jedes deutsche Wort. „Mein Vater Pole, 1924 keine Arbeit, zurück nach Polen.“ Kopftuch über dem Kopf, kaum Zähne im Mund, wirkt sie noch sehr agil und wirft mir einen verschmitzten, leuchtenden Blick zu. Sie kramt auch ein paar Sätze Französisch aus dem Gedächtnis. Ich verstehe zwar nur Choucroute (Sauerkraut), von der Aussprache klingt es aber echt.

„Ich in Deutschland gearbeitet, Dortmund, Düsseldorf, Karlsruhe. Bei großen Bauer, aber nix gut. Andere Bauer sehr gut". Auf meine naive Frage „Wann?“ antwortet sie prompt „in Krieg". Schon wieder eine Zwangsarbeiterin für das tausendjährige Reich! Auch ihr Mann habe während des Krieges im Reich gearbeitet, in Österreich. Aber dafür kein Geld bekommen, denn der Mann in der Fabrik, Bild vergrössern der die Unterschrift geleistet hatte, sei gestorben. So war das also damals.

Hier endlich, in den Beskiden südwestlich von Krakau, nahe am Babiogorsky Nationalpark, dessen bis zu 1700 hohen Berge im Hin­tergrund hochragen, fängt man an, Schilder mit der Aufschrift Pokoje (Zimmer) oder Noclegi zu sehen. Verstanden? Noc wie Nacht und legi wie (hin)legen.

Auch sieht man wieder vermehrt Häuser, die so etwas wie einen eigen­ständigen polnischen Baustil vor­weisen. Es handelt sich dabei entweder um kleine einstöckige, nicht sehr stark gegliederte Konstruktionen aus dunklem oder manchmal bunt angestrichenem Holz, kaum mehr als einfache Wochenendhütten, oder um etwas größere, zweistöckige Häuser, ebenfalls aus Holz, denen manchmal ein verglaster, verandaartiger Vorbau das Aussehen von Landhäusern russischer Adeliger verleiht, wie sie mir die Lektüre von Pushkins Erzählungen vermittelt haben.

Auffälliger aber ist eine Bauweise, die mir derart typisch für diese Gegend erscheint, dass ich mit Sicherheit behaupten könnte, sie in keinem anderen Land bevor gesehen zu haben.

Das Typischeste und gleichzeitig auch Ansehnlichste daran sind die sehr steilen Sattel- oder Giebeldächer, die manchmal bis zum Parterre reichen und gegebenenfalls auch asymmetrisch sind, ferner die spitzen Giebel, an dessen Fuß schmale Fußwalmdächer verlaufen, die Giebelgauben und Zwerchhäuser, diese ebenfalls mit spitzen Dächern, die durch ihre Verschachtelung und diese Asymmetrien ein wenig an orientalische Pagoden erinnern.

Was in der Gegend nach wie vor fehlt, sind Ortschaften mit intaktem Ensem­blecharakter. Man sieht nur weit über das Land verstreute Häuser, gegebenenfalls irgendwo eine vereinsamte Kirche als Mittelpunkt und Blickfang. Und von Ab­ge­schiedenheit und Menschenleere kann ebenso kaum gesprochen werden. Überall wird auf Teufel komm Bild vergrössern raus gebaut. Die halb fertigen Häuser sind in man­chen Gegenden fast so zahlreich wie die bereits bezogenen. Ein Adieu, also, der Illusion (dem Traum) von kleinen Dörfern im Dornröschenschlaf, wo Hinter­wäld­ler in bunten Trachten die – sehr seltenen – Touristen gast­freund­lich emp­fangen.

Der Verkehr ist, selbst hier auf den Nebenstraßen, wesentlich dichter als beispielsweise im Böhmerwald, und die wenigen Pferdegespanne – ich habe bisher 16 davon gezählt –, denen man begegnet, wirken inmitten der über­wiegenden Moderne nur noch arm­selig und unzeitgemäß. Mein 17. Pferdegespann will ich dennoch fotografieren. Obwohl der alte Mann nicht besonders freundlich in die Kamera schaut. Er wird sich schon denken können, warum ich ihn fotografiere. Wie eine vom Aussterben bedrohte Tiergattung in einem Naturreservat. Es ist mir ein wenig peinlich.

Auf der Passhöhe angekommen, weht der Föhn so böig, dass das Auto bei jedem Stoß anfängt zu schwanken.

Und es regnet sich wieder ein und dieser Regen verstärkt meine Absicht, noch heute weiter nach Tschechien zu fahren. Der Grenzübergang Ciesyn ist mein Ziel.

Aber je näher ich zur Grenze komme, desto großartiger wird das Schauspiel des Him­mels. Eine Apotheose mit goldenen Wolken im Westen und darunter eine ent­spre­chend leuchtende Landschaft, die in dieses Gold getaucht ist. Eine nordische Lichtstimmung. Zwar verdüstern die vom Wind in rascher Abfolge gejagten Wolken immer wieder den Himmel, aber um so schneller werden sie auch wieder weggefegt. Entlang den von Baumreihen gesäumten Landstraßen wirbelt der Wind die Blätter stoßartig auf und schüttelt gewaltig die Baumkronen. Es ist ein Herbstzauber, dem nur noch die Verfärbung der Blätter fehlt. Das Licht-und-Himmel-Schauspiel steigert sich weiter zu einem großartigen Finale.

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