Reisebericht Tschechien, Polen
Przemysl
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Przemysl

Kurz nach acht war ich in Przemysl. Wie ein Blinder kreuz und quer durch die dunkle Altstadt auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit herum­kutschierend, steuerte ich schließlich, auf unebenem Kopfsteinpflaster holpernd und nach zahllosen Schleifen und Einbahnstraßen, die Burg an, in dessen Nähe in allerletzter Minute ein leuchtendes Schild Hotel pod Baszta vor meinen Augen auftauchte. Ein Hund bellte, ich klingelte, und es war geschehen.

Das äußerlich völlig heruntergekommene Gebäude entpuppte sich im Inneren als einigermaßen gemütlich. Weil aber der schnauzbärtige Eigner und seine etwas pum­melige Frau nur Polnisch sprachen, wurde die kleine, etwa 12-jährige Tochter kur­zer­hand zur Dolmetscherin erklärt.

Also bestellte ich für morgen um halb neun mein Frühstück mit chleb (Brot) kava (Kaffee) maslo (Butter), syr (Käse) und selbst gemachtem Zwetschgenmus.

Wobei mir auch hier meine Grundkenntnisse der tschechischen Sprache halfen, denn viele Wörter gleichen den entsprechenden polnischen wie ein Ei dem anderen.

Und apropos Sicherheit: Nachdem ich das Auto im Hof geparkt hatte, hieß es, ich solle bitte dem Hund nicht zu nahe (blizko) kommen, er beiße. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass ich hier bestimmt nicht um mein Auto fürchten muss.

21. August
Przemysl

8 Uhr 30. Ich höre es an der Tür klopfen. Noch im Pyjama öffne ich die Zimmertür einen kleinen Spalt. Und wer steht da? Mutter und Tochter mit einem riesigen Tablett voller Brot, Käse und Marmeladegläsern sowie einer Tasse raben­schwarzen Kaffee.

Gut, dass ich bereits um sieben, um den Andrang zu vermeiden, das Bad benutzt habe und deshalb, bis auf die Kleidung, bereits manierlich aussehe. Also muss ich im Zim­mer frühstücken – doch keinen Familienanschluss. Allenfalls einen Selbstgemachte-Marmelade-Anschluss.

So sitze ich allein in diesem kleinen Zimmer, habe Mitleid mit der platt geklatschten Mücke an der sonst makellos weißen Wand, und verzehre das üppige Mahl. Plastik-Efeu blickt mich leblos von der Wand an, eine Fliege findet einen Weg zwischen den weißen Stores ins Zimmer, summt drei Runden und ist danach wieder verschwunden.

Die bordeauxfarbigen Vorhänge und die bunten Kissen geben dem Zimmer einen Anflug von Freundlichkeit. Nur wenn ich den Blick nach draußen schweifen lasse, empfängt mich Tristesse. Trostlos die Stadtrandsiedlungen im Hintergrund, trostlos der Himmel, dessen Grau bis hinunter zur Gasse reicht und mir jede Hoffnung auf gute Fotos nimmt, trostlos das Erscheinungsbild des vor sich hin abbröckelnden Ortes.Bild vergrössern

Ich bin in einer Stadt jenseits der Zeit aufgewacht. Sie ist stehen geblieben. Sie hat nicht zugelassen, dass alte Häuser abgerissen werden. Sie hat nicht zugelassen, dass alte Fassaden neu gestrichen werden, sie hat aus dem abbröckelnden, grau ge­wordenen Putz ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das den Besucher um hundert Jahre zurückführt, um ihm zu zeigen, was heute kein Architekt oder Städtebauer mehr kann – oder will.

Langsam glaube ich, dass es doch eine gute Entscheidung gewesen ist, diesen Ort zu besuchen, in dem die Moderne nur sehr zaghaft an die Tür geklopft hat, wo ein Hotelzimmer nur 15 Zloty pro Nacht kosten soll (etwa 8 DM), und wo ich, wenn vielleicht nicht die besten Fotos machen, so doch meiner Fantasie freien Lauf lassen kann.

Galizien, Przemysl, Lemberg! Wie ge­schichts­träch­tig klingen diese Namen. Wie nos­tal­gisch las­sen sie mich werden! Und hat nicht auch mein Großvater Galizien in seinen Erin­nerungen aus dem Ersten Weltkrieg erwähnt?

Was ich nicht wusste, war, dass dieses Gebiet südlich der Weichsel erst im Jahre 1772 bei der ersten Teilung Polens, als es zu Österreich fiel, die­sen Namen bekam.

So bekam Przemysl unter Österreichs Herrschaft einen großen Teil seines heutigen Gesichts, Par­don, von dem, was von seinem Gesicht übrig ge­blieben ist: Kopf­steinpflaster, mit groben, un­re­gel­mä­ßigen Steinen, teilweise schon derart zer­stört, dass sich schon beim leichtesten Regen Schlamm breitmacht; ein Rest alter, schöner Bürgerhäuser im Renaissancestil am ehemaligen Ringplatz mit ihren gedrungenen, niedrigen Arkaden; die do­mi­nante Kathedrale und die Fran­zis­kanerkirche, di­rekt am Hügel des Schloss­berges.

Bild vergrössernUnd wie viele geschlossene Häu­ser­rei­hen aus der Jahr­hun­dert­wen­de gibt es noch, die den Betrachter in die bürgerliche Welt der letzten Jahre der Habs­burgermonarchie versetzen! Verwittert, he­run­ter­ge­kom­men, ruß­ge­schwärzt stehen sie da. Häuser, die Großvater auf seinen Streifzügen im ersten Welt­krieg noch erlebt haben könnte.

Nur zaghaft scheinen sich hier Geschäfte angesiedelt zu haben. Aber gewöhnlich sehen ihre Waren ebenso altmodisch aus wie die Stadt selbst: alte Uhren, Kris­tallgläser, Kleider im Stil der fünfziger Jahre, Bücherläden hinter dunkelgelb ge­tön­ten Auslagefenstern. Verunstaltungen durch Vollglasschaufenster sieht man nur selten.

Der jüdische Friedhof

Auf der Suche nach dem stary cmentarz żydowski (alten jüdischen Friedhof) ergibt es sich, dass ich einen alten Herrn nach dem Weg frage. Er lächelt mich freundlich an, fragt, ob ich niemiecki (deutsch) sei, und beschreibt mir bereitwillig den Weg – auf Deutsch.

Nach dieser von mir völlig unerwarteten Zuvorkommenheit verabschiedet er sich mit einem doppelten: „Ich wünsche Ihnen alles Gute“ und einem festen Handschlag. Ich zögere ein wenig, weiter zu gehen, und frage ihn noch, wo er so gut Deutsch gelernt habe. Wieder strahlt er mich an und zählt all die Orte auf, in denen er zwischen 1940 und 1945 war: Danzig, Nürnberg, Frankfurt unter an­deren. Aha, denke ich mir, als Zwangsarbeiter im Reich!

Wieder sein fester Händedruck, seine strahlenden Hans-Albers-Augen und: „Alles Gute!"

Also mache ich mich auf den Weg zu dem etwas außerhalb liegenden, für diese kleine Stadt unverhältnismäßig großen Friedhof. Von jüdischen Gräbern sieht man aber keine Spur. Hier und da knien Menschen vor einem Grab oder wechseln die Blumen aus, aber wo ich auch hinschaue, ich sehe nur Kreuze.

Kein Auf- und Abgehen der Gräberreihen hilft mir weiter. Ein Meer von Kreuzen. Ent­täuscht verlasse ich den Ort, sehe mich noch einmal um, gehe noch ein paar Schrit­te stadtauswärts, bleibe unschlüssig stehen. Erst jetzt, etwa hundert Meter vom großen Friedhof entfernt, entdecke ich ein weiteres, von einer alten Mauer umzäuntes Areal. Ich trete durch ein Gittertor hinein, das durch einen un­auffälligen Judenstern verziert ist.

Anfangs wundere ich mich nur, wie klein die Fläche ist, die den Gräbern gewidmet ist. Kaum zwanzig von ihnen kann ich zählen, und allesamt scheinen sie neu zu sein. Erst bei näherem Ansehen merke ich, dass die Grabsteine aus schwarzem Marmor zwar kaum früher als aus den siebziger Jahren stammen, aber auf wesentlich älter aus­sehenden Sockeln stehen. Diese sind aus Granit oder anderem Stein und bereits stark mit Flechten und Moos bewachsen.

Immer noch nicht ganz überzeugt erforsche ich nun das anschließende Areal, ein völlig verwildertes Gestrüpp mit leuchtenden gelben Blumen und mannshohen Brenn­nes­seln. Aber ich muss erst einmal stolpern, ehe es bei mir dämmert. Denn hier lie­gen sie, die Grabsteine, umgeworfen, zerbrochen und völlig von der Natur über­wuchert.

Im tiefen Gestrüpp wage ich mich jetzt weiter bis zu dem dahinter liegenden Wäldchen, das dunkel, mückenverseucht und fast undurchdringlich jeglicher Erkundung zu trotzen scheint.

Und auch hier finde ich sie, die verwitterten Steine; zwischen Baumwurzeln, Gräsern und dichtem Unterholz vergegenwärtigen sie gespenstisch die Toten unter meinen Füßen. Ich Bild vergrössernkomme mir vor wie ein Archäologe in Mexiko, der soeben eine völlig zugewachsene Py­ra­mi­de der Mayas entdeckt hat.

Die alten Inschriften sind fast ohne Ausnahme nicht mehr leserlich. Und es scheint weniger das lange Einwirken der Zeit gewesen zu sein, dass sie ab­bröckeln lassen hat, denn es ist deutlich erkennbar, dass sie mutwillig abgeschabt oder abgemeißelt worden sind. Bei denen, die noch zu lesen sind, han­delt es sich eindeutig um „Er­gän­zungen“ aus späteren Jahren. Es ist offensichtlich, dass der alte Friedhof geschändet wurde, böswillig zerstört. Und es können nicht nur die Nazis gewesen sein. Auch viele Gräber aus der Nachkriegszeit liegen umgeworfen, zerschlagen und verunstaltet auf dem Waldboden.

Antisemitismus im Lande der Bauern und Arbeiter? Aber ja, Ende der sechziger Jahre hatte das Gomulka-Regime wieder heftigst den Antisemitismus entfacht. Ein Sün­denbock für die Versäumnisse des Regimes.

Lästige Mücken plagen mich, während ich in diesem Unterweltszenario umherirre und versuche die Inschriften zu entziffern. In dieser späten Nachmittagsstunde wirkt der Ort unwirklich, düster, um nicht zu sagen unheimlich.

Hier ruhen die irdischen Reste eines edlen Wesens, einer Zierde der Töchter Is­raels, einer Frau von edlem Denken und Handeln, Tochter eines Ge­lehr­ten­stam­mes, Sali Aschkenazy, geboren am 5. August 1841, schied aus unserer Mitte am 27. Juni 1913". Weitere Namen sind noch zu lesen: Szymon Gottfried, Jakob Blech, Esther Hirt und Elias Simon, Stifter des hiesigen israelischen Spitals.

Immer noch umschwirren mich die Mücken und ein plötzlicher herbstlich-kühler Wind bringt mich zum Schaudern.

Der Gedanke, dass auf den seit fast sechzig Jahren nicht mehr gepflegten Grab­stätten ein ganzer Wald gewachsen ist, dass sich während dieser Zeit niemand mehr darum gekümmert hat, weil es nicht erlaubt war, weil die wenigen Über­le­ben­den, die es hätten tun können, geflohen waren oder weil es einfach nie­man­den mehr für diese Aufgabe gab, erfüllt mich mit Ehrfurcht und Respekt für dieses gepeinigte Volk.

Unwillkürlich muss ich über das Vergehen der Zeit und über das Sterben, ich sage lieber das „Verschwinden“ von Menschen, Ortschaften und Erinnerungen, aber auch nur über deren Veränderungen in der Zeit nachdenken. Ich frage mich, was passieren würde, wenn Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten an einem be­stimm­ten Ort lebten, plötzlich alle gleichzeitig wieder erschienen. Was, wenn mein Großvater mich als Erwachsener wieder treffen könnte? Er würde mich ebenso wenig erkennen, wie ich mich an meinen zwanzigjährigen Vater erinnern kann. Denn mich gab es damals noch nicht.

Jeder Ort ist zu jedem Zeitpunkt ein nicht wiederholbarer Querschnitt unzähliger Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Gefühle und Gedanken. Tage später beinhaltet der Querschnitt schon nicht mehr dieselben Menschen, denn neu geborene sind hinzugekommen, andere sind gestorben. Eine Woche später, ein Jahr später, eine Generation später hat sich die Zusammensetzung völlig ver­än­dert. Es ist nicht mehr die gleiche Stadt, es sind nicht mehr dieselben Gedanken in den Köpfen der Menschen, auch jener, die noch am Leben sind. Warum die Bio­grafie eines Menschen schreiben und nicht zwei Minuten im Leben einer Stadt? Die kurzen Ge­danken schildern, die unzählige Menschen völlig unabhängig voneinander gleich­zeitig haben, die Bruchstücke von Ereignissen, die in jenen Minuten passieren. Man würde, so denke ich, mehr Erkenntnisse, Zusammenhänge und wie­der er­kenn­bare Muster entdecken als durch die Beschreibung eines Lebens.

Und um ähnliche Gedanken weiter zu spinnen: Was würde passieren, wenn es eine Gleichzeitigkeit von Ereignissen gar nicht gäbe? Wenn sich die Zeit für unter­schied­liche Menschen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegte? Wenn man das, was andere Menschen tun, jeweils zeitversetzt erleben würde? Um Sekunden, Minuten? Antworten kämen zu spät, die gereichte Tasse fiele aus der Hand, Blicke würden nie erwidert.

Während ich gedankenverloren in einem Restaurant im Freien sitze und das Essen als etwas völlig Nebensächliches, nur als Alibi zum Sitzenbleiben und Wei­ter­sin­nie­ren benutze, wenden sich die zwei jungen Männer vom Nebentisch an mich und flüstern mir fast komplizenhaft zu, wie schlecht das Essen in diesem Restaurant sei, gar nicht dobre, und dass man gleich um die Ecke viel besser essen könne.

Dzenkuje, erwidere ich etwas verlegen. Sie können nicht wissen, dass ich an diesem Abend eigentlich gar nicht hier bin, ich bin in der Vergangenheit.

                
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