Im Böhmerwald
Reiseskizzen von Bernd Zillich   
   
 
                   
   
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Oktober 1994
Juni 1995
   
   
 
Sumava
 
Südböhmen
Böhmerwald

 
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Böhmerwald

 
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Montag, 10. Oktober 1994
Diesmal fahre ich über Regensburg, Cham und Furth im Wald nach Böhmen, in den Landstrich, der Chodenland heißt. Die Choden, deren Existenz - ich muss es eingestehen - mir bis vor kurzen völlig unbekannt war, sind eine slawische Volksgruppe, die von den böhmischen Herrschern ab dem 13. Jh. als Wehrbauern in dieser Grenzregion angesiedelt wurden. Für ihre unentgeltlichen Wächterdienste wurden ihnen zahlreiche Privilegien eingeräumt. Die Choden sind heute noch tra­ditionsbewusst, sie sollen ihren eigenen Dialekt, sowie ihre Volksbräuche und Trachten am längs­ten erhalten haben. Im August gibt es in Domažlice (Taus) ein bekanntes Musik- und Folklore­fes­tival. Diese hübsche kleine Stadt liegt nur 13 km vom Grenzübergang Furth im Wald entfernt und soll das erste Ziel meiner Reise werden.
Grenzland: Wie schon bei meinen früheren Reisen registriere ich mit Freude die übergangslos sich einstellenden Unterschiede im Charakter des Landes. Diesseits der Grenze kann ich im Vorbei­fah­ren eine gepflegte, landwirtschaftlich stark genutzte Landschaft beobachten und die adretten Ei­gen­heimsiedlungen der Oberpfälzer Dörfer. Schön, wie die Häuser heute wieder in Anlehnung an die Tradition gebaut werden; wie zur Zeit, meine ich, als es noch nicht die hässlichen, übergroßen und sprossenlosen Kippfenster gab, diese Ausgeburten der Fantasie einer frustrierten Putzfrau.
Jenseits der Grenze erkenne ich mit Freude das eigenartige Ge­misch aus alter, leicht verstaubter und verfallener Dorfsubstanz aus der Vorkriegszeit, und den nicht weniger verfallenen Nach­kriegs­miets­ka­sernen aus der neueren Vergangenheit. Niederbayern, die Oberpfalz, der Bayrische Wald, sie machen auf mich den Eindruck einer "rasierten" Landschaft. Die Wiesen, Felder und Äcker sind sau­ber abgegrenzte geometrische Muster, selbst die Reihen von Heu­haufen sind wohl geordnet, die Pflugfurchen wie mit dem Lineal gezogen. Man sieht, dass nicht die kleinste Fläche ungenützt ge­blie­ben ist. Die Wiesen werden bis zum Straßenrand gemäht, sie wirken sauber, gepflegt, steril, nichts ist dem Wildwuchs überlassen.
Die Menschen sind anders: Ich erkenne sie wieder, diese slawischen Gesichter und diese herum­lungernden Figuren im lila Jogginganzug, die den Eindruck erwecken, als ob sie immer auf etwas warteten: auf ein Grenzübergangspapier, eine Mitfahrgelegenheit, auf ein Geschäft oder wer weiß worauf. Die Details sind anders: Die bunten Gartenzwerge, auf den improvisierten Märkten in Grenznähe zum Verkauf angeboten, die gibt es nur hier; die Nutten, die dem Autofahrer zuwinken, das ist eine neuzeitliche Erscheinung; die sich selbst überlassenen Flächen, der "unaufgeräumte" Wald sowie die alten Eichenalleen, sie gehören bei uns bis auf wenige Ausnahmen zur Ver­gan­genheit.
Im Süden von Westböhmen gibt es keine schönere Stadt als Domažlice. Einzigartig ist nicht nur der 59 Meter hohe gotische Stadtturm, sondern auch die Architektur seiner bezaubernden Lauben­gänge zu beiden Seiten des in seiner historischen Form intakten Hauptplatzes. Sehr malerisch sind auch die zahlreichen Bürgerhäuser aus der Zeit der Gotik, Renaissance, Barock und Empire - so steht es wenigstens im Reiseführer.
Ich schlendere eine Weile durch die Lauben, durchquere mehrmals in beiden Richtungen das gut erhaltene Stadttor, überlege mehrmals, ob ich hier übernachten soll oder nicht, aber meine Un­ent­schlossenheit siegt. Meine Fahrt geht weiter, über Kdyne (Neugedein) nach Klatovy (Klattau) und weiter, während die Sonne schwächer wird, durch das spärlich besiedelte Land. Hier am westlichen Rand des Böhmerwalds ist die Landschaft nur leicht hügelig, weniger bewaldet, insgesamt eher langweilig, die Wiesen haben das satte Grün des Frühjahrs verloren, und überall sind die Zeichen der gleichmachenden Landwirtschaft zu sehen. Ich fahre auf Nebenstraßen, verfahre mich öfters, werde ungeduldig, schlecht gelaunt, resigniert, philosophisch, wieder är­ger­lich, dann vorüber­ge­hend gleichgültig und entspannter, nur um ein paar Kilometer weiter wieder an allem zu zweifeln, und komme in der Dämmerung, während die ersten Nebel bereits aufsteigen, in Nyrsko (Neuern) an, wo ich neben der Kirche, gerade noch rechtzeitig vor dem Dunkelwerden, ein kleines Hotel finde. Man frage mich bitte nicht mehr, wie es heißt!
Nyrsko, 11. Oktober
Als ich aufwache, ist es, als ob der ganze Ort von einer grauen Nebelsuppe verschluckt worden wäre. Nach dem Frühstück, während eine zögernde Sonne diesen 4300-Seelen-Ort langsam wieder sichtbar macht, beginne ich damit, die im Reiseführer erwähnte gotische Kirche aus dem 14. Jh. zu besichtigen. Eine Zeit lang verliere ich mich dann in der Atmosphäre des alten Friedhofs.
Das Gegenlicht, das Herbstlaub, einzelne Sonnen­strah­len zwischen den Ästen und dieses ewig mich faszi­nie­ren­de Geheimnis der Gräber mit ihren - deutschen - Inschriften und den unzähligen Geschichten, die sich dahinter verbergen, halten mich lange in ihrem Bann.
Gedanken kommen in mir auf über die Zeit, die Erin­nerung, über die Wirklichkeit von verschwundenen, vergessenen Dingen und Menschen. In einem Roman von Toni Morrison, Beloved, die passende Worte dazu. "Ich hab über die Zeit geredet. Es ist so schwer für mich, daran zu glauben. Manches vergeht. Geht vorbei. Manches bleibt einfach. Ich hab immer gedacht, es läg in meinem Gedächtnis. Weißt du. Dass man manches einfach vergisst. Und anderes nie. Aber das ist es nicht. Die Orte, die Stellen sind immer noch da. Wenn ein Haus abbrennt, ist es fort, aber die Stelle - das Bild davon - bleibt, und nicht nur in meinem Gedächtnis, sondern auch draußen in der Welt. Meine Erinnerung ist wie ein Bild, das dort draußen herumschwebt, außer­halb von meinem Kopf. Ich meine, auch dann, wenn ich gar nicht dran denk oder sogar, wenn ich sterbe, dann ist das Bild von dem, was ich getan oder gewusst oder gesehen hab, immer noch da draußen."
Nyrsko konzentriert die ganze Absurdität der kommunistischen Herrschaftszeit auf kleinstem Raum. Rund um die Kirche und etwa 200 m entlang der Uhtava könnte man ins Schwärmen kommen. Einige alte Häuser, der Charakter einer Ortschaft, wie sie einmal war, eine heile Welt.
Hinter der Mauer des Friedhofs sieht man aber bereits den Schornstein einer Glasfabrik, und weiter unten, dort wo die kurze Promenade am Fluss endet, fängen die Mietskasernen einer schäbigen Peripherie an. Dort gähnen leere Flächen, von Häusern, die einmal abgerissen wurden, und nie­mals mehr aufgebaut. Von der Idylle zur Gesichtslosigkeit ist es nur ein winziger, kleiner Schritt. Und das in einer Landschaft, die zu den schönsten und naturbelassensten Europas gehört. Darin liegt eine derartige Absurdität, dass es fast wieder interessant wird, und nur die Vorstellung, dass hier Menschen leben können, die dies alles normal finden, ist - jedenfalls für mich - unvorstellbar.
Den Rest des Tages verbringe ich auf der Suche nach einer Unter­kunft und einem Restaurant. Die Leere, die einem in diesen Wäl­dern entgegensieht, ist, besonders in der Nachsaison, für den Baye­rischen-Wald- oder Alpen-Tou­ris­ten, fast unwirklich. Betriebs­er­ho­lungszentren, Hotels und Pen­sio­nen gibt es kaum, oder sie sind geschlossen, oder sie ver­fal­len in der Einsamkeit einer Ne­benstraße, während der Putz ihrer Fassaden langsam vor sich hin ab­bröckelt, als ob die sowieso nicht vor­han­de­nen Gäste nicht das geringste Interesse hätten, in dieser Gegend ihre Ferien zu verbringen.
Fünf Jahre nach der Öff­nung des Eisernen Vorhangs (so leicht wie er abzureißen war, muss er eher aus Papier gewesen sein) sieht man zwar zögernde Renovierungsversuche wie frisch gestrichene Fassaden, alte Häuser mit neuen Fensterrahmen, Zimmer-frei-Schilder, liebevoll gepflegte Gemü­se­gär­ten und neue Hotels, und man trifft ab und zu auch Deutsch sprechende Personengruppen, aber nach einem Tourismusboom sieht es derzeit - der Allmächtige sei gelobt - noch nicht aus. Alles scheint sich noch auf einige größere Orte und auf die Hauptsaison zu konzentrieren.
Nachdem ich am späten Nachmittag endlich ein Nachtquartier in einem verschlafenen 20-Häu­ser-Nest gefunden habe, vagabundiere ich entspannt zwischen jahrhundertealten Linden und rausch­enden Bächen und lasse die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf mein Gemüt einwirken.
Eine im Schatten einer Hecke schlafende Katze, frei laufende Hühner, bellende Hunde und zum Verkauf angepriesene Gänse bilden die lebendige Kulisse dazu. Während das Licht milder wird und allmählich verschwindet, ziehe ich noch eine Weile in einer Apfelbaumplantage herum, fas­ziniert von der Farbenpracht der kleinen gelb, rot bis fast violett gefärbten Früchte. Diese Äpfel schmecken so gut, wie ihre Schwestern der gehobenen Euro­norm-Kategorie aus Südtirol oder vom Bodensee nicht einmal davon träumen können.
Der Übergang zur Dunkelheit der Nacht ist fast nahtlos. Nur ein leichter Nebelschleier kommt in den Niederungen auf, und die schmale Mondsichel und das Firmament beseelen meinen Abend­spaziergang mit tausend Erinnerungen und Träumen. Welch eine Faszination übt eine klare Sternennacht auf mich aus! Wie oft, und doch ist es selten, suche ich diese Dunkelheit, schleiche ich mich an den Rand eines Dorfes, dort wo die Straßenlaternen aufhören und kein Licht mehr stört und vertiefe mich in die Bewunderung des Alls.
Dann, als ich die dunklen Konturen eines Hauses, seine schwach beleuchteten Fenster und die schwarze Silhouette seiner Schornsteine beobachte, wird die Reise in den unermesslichen Raum auch zu einer Reise in die Zeit, weit zurück in die Vergangenheit meiner Kindheit. Ganz deutlich erweckt diese Szene Erinnerungen an die gruselige Geschichte von "La casa dello spettro" (Das Geisterhaus) aus den Westernheften "Pecos Bill" in mir, und ich habe fast den Eindruck, als würde ich auf dem Dach die lebensgroße Gestalt des verrückten Sam sehen, wie er mit seinem Spaten in der Luft herumfuchtelt und dabei gespenstisch lacht.
Zelena Lhota, 12. Oktober
Als ich aufwache, ist die Wiese vor meinem Fenster weiß vor Reif, und es ist nicht der geringste Ansatz von Nebel in der Luft. Es bahnt sich ein herrlich klarer Herbsttag an. Snídane (Frühstück)? Nein, das sei nicht vorgesehen. Paní (Frau) Olína Selackova teilt mir in gebrochenem Deutsch mit, dass sich ihre Gäste selbst versorgen würden. Allerdings sei der Konzum geschlossen, weil die Inhaberin im Krankenhaus ist. Man müsse nach Nyrsko fahren, um einzukaufen.
In einer Nische direkt außerhalb meines Zimmers steht ein (nicht eingeschalteter) Kühlschrank und ein Herd mit einem Wasserkochtopf auf der Kochplatte. Das habe ich nun davon, dass ich die Einsamkeit suche - ich habe sie gefunden! In diesem Ort gibt es kein Geschäft, kein Restaurant, nur zwei (in dieser Saison allerdings geschlossene) Pensionen, ein Café und dieses Haus, Zelena Lhota Nr. 6.
Das kleine dum (Haus) löst bei mir genau jenes Empfinden aus, auf das ich eingestellt war. Nicht in einem komfortablen, nach westlichem Vorbild gebauten und charakterlosen Hotel wollte ich ab­stei­gen, nein, ich war bestrebt, einen Fuß in den Türspalt des richtigen, alltäglichen (böhmischen) Le­bens zu setzen. Und das sieht hier folgendermaßen aus: eine freundliche, dicke, blonde, alters­mä­ßig schwer einzuschätzende Frau, ein graziles kleines Mädchen, das tagsüber von ihr betreut wird, ein dümmlich aussehender und schweigsamer Mann, ein alter Skoda vor der Haustür, ein winziger Gemüsegarten, ein Hausflur voller Fenster und Topfpflanzen, zum trocknen ausgebreitete Pilze, eine liebevolle Unordnung. Mehr als diesen oberflächlichen Einblick erlaubt mir die Sprachbarriere leider nicht.
Nach dem Frühstück (Paní Olína hat sich doch meiner erbarmt) beschließe ich, wieder nach Nyrsko zu fahren. Ich möchte einiges einkaufen und einen Schuster aufsuchen.
Der Ort liegt noch im dichten Nebel, es ist kalt und einen Schuster zu finden ist schwieriger als erwartet. Ich frage mich zwar mit dem Satz "kde je švec?" tapfer durch und werde durchaus verstanden, aber die Antworten helfen mir kaum weiter. Eine alte Frau strahlt mich, als ich sie frage, freundlich an und schleudert mir ein halbes Dutzend Sätze voller Zischlaute ins Gesicht. "Decuji, decuji", erwidere ich geschwind, weniger um mich zu bedanken als um ihren Wortschwall zu beenden. Aus diesem Grund spreche ich mit Vorliebe ältere Menschen an, in der heimlichen Hoffnung, dass sie zu den 100.000 Deutschen gehören, die nach dem Krieg in Tschechien bleiben durften. Plötzlich, während ich, einer Empfehlung folgend, "näbän Wassär" (dem Fluss entlang) unterwegs bin, ruft mir ein Mann im grauen Kittel ein lautes "kommen" hinterher - der Schuster.

Beflügelt von meinem Erfolg fahre ich aus dem Nebel­loch zurück in die Sonne und mache mich auf zu mei­nem nächsten Ziel. Ich suche im tiefsten In­neren des Nationalparks den so genannten Bíly Potok (Weißenbach), bzw. die Bílá Strz (weiße Schlucht), in der sich ein großartiger Wasserfall befinden soll. Nun ist das mit der naturbelassenen Landschaft auch so beschaffen: Es ist (wenigstens in dieser Jahreszeit) kein Mensch zu sehen, keine Jausenstation bietet dem müden Wanderer eine Labung, keine Hütte lädt zum Übernachten ein. Dafür sind alle Wanderwege - ver­mutlich aus Sorge um die Bandscheiben der Wanderer - asphaltiert (!) und als Radwege gekennzeichnet; die Wälder unterscheiden sich, abgesehen von ihren Aus­maßen, kaum von einem Bayrischen Forst und un­zäh­lige Schilder "Národní Park šumava" (Nationalpark Böhmerwald) mahnen den naturliebenden Menschen, ja nicht die markierten Wege zu verlassen, Abfall wegzuwerfen und weitere Schandtaten zu begehen.
Die Kernzonen des Nationalparks, die einzigen wirk­lich in ihrem Ursprungszustand belassenen Wälder und "Naturmonumente", sind umzäunt und für jeg­lichen Zutritt verboten.

Welch ein Entzücken, als ich, bei den ersehnten Wasserfällen angekommen, wieder ein Hinweis­schild voller Verbote sehe: kein Feuer, kein Radfahren, kein Zelten, keine Hunde, kein Verlassen der Wege, kein alles. Und - habe ich das richtig verstanden? - kein Fotografieren!
Und da stehe ich nun vor meinem Bild und kann mich seiner nicht bemächtigen, oder besser ge­sagt: soll mich nicht! Denn leider, leider kann ich darauf keine Rücksicht nehmen. So schultere ich mein Stativ, klettere über den Zaun, bemühe mich sehr, ja kein Pflänzchen oder einen vor dem Aussterben bedrohten Farn niederzutreten oder Steine ins Rollen zu bringen und - wenn auch mit etwas Herzklopfen - drücke mehrmals auf den Auslöser. Die Strafe für die Gesetzesübertretung kann jetzt nur noch ein misslungenes Foto werden, aber dies kann mir schließlich auch bei er­laub­ten Objekten passieren.
Hiermit könnte die Chronik des heutigen Tages enden, denn der Rückweg unterscheidet sich in nichts von einem ähnlichen Heimweg von einer Wanderung in Bayern, Österreich oder sonst wo. Der Himmel ist herbstlich klar, der "goldene" Oktober macht seinem Namen Ehre, die Sonne wärmt noch hinreichend, das letzte Wurstbrot wird verspeist und die geklauten Äpfel schmecken hervorragend.
Spicak, 13. Oktober
Ich überquere die Schneisen mehrerer Skipisten, wandere an den mächtigen Stützpfeilern zweier Skiliftanlagen vorbei, ärgere mich nicht wenig über die unansehnlichen, fest installierten Beschnei­ungs­anlagen, und empfinde es folglich ausgesprochen als Hohn, als plötzlich ein Schild mich darauf aufmerksam machen will, das dies eine naturgeschützte Zone sei.
Davon ist wirklich nicht viel zu sehen. Große Mengen gefällter Bäume liegen kreuz und quer auf dem Waldboden, fertig zum Abtransport. Die kümmerlichen, wie gerupfte Hühnerfedern aus­seh­en­den Bäumchen, die aus einem Boden ohne Moos und anderer Vegetation herauswachsen, unter­scheiden sich kaum von ihren durch sauren Regen geschwächten Vettern unserer westdeutschen Fichtenplantagen. Nur ein brauner Nadelteppich und verstreute Tannenzapfen bedecken den Wald­boden - die reinste Öde. Als ich langsam aufwärts marschiere, ändert sich dieses Bild allmählich - fast unmerklich. Der Pfad wird steiniger und wurzeliger, der Wald wird zum Mischwald, in wirrem Durcheinander liegen jetzt vermodernde Baumstämme neben dem Weg, und eine schwache Sonne glitzert freundlich durch die Kronen von gewaltigen Buchen. Braunes Herbstlaub, vereinzelte Farne und dichte Moospolster bedecken den Boden und man kann sogar das Plätschern eines Bächleins hören.
Während mich zwei Enten vom grünen See aus schnatternd ver­spotten und ein Auto lärmend vom Parkplatz (!) wegfährt, überwältigt mich dieses erhabene Gefühl, end­lich im Innersten des Innersten der ursprünglichen, gefährlichen, seit Jahrtausenden unberührten Natur, angekommen zu sein, am Teufelssee (certovo jezero). Gleich mahnen mich auch die ge­wohnten Schilder: Mountain Bikes verboten, nicht ins Wasser gehen, nix Foto, und dulcis in fundo "die NSG-Grenze ist im Gelände mit zwei roten Strichen gekennzeichnet". Mich würde es nicht wundern, wenn auch das Sprechen, Stehen, Gehen, Sitzen, Essen und Trinken verboten wäre. Es könnte ja die Fische erschrecken! Ich fühle mich auf den Arm genommen. Als ob die wenigen Hektar geschützter Natur ausschlaggebend wären. Es ist, so ziehe ich den Vergleich, wie wenn die Alliierten beim Zerbomben von Wien den strikten Order bekommen hätten, unbedingt den Stephansplatz - und nur den - zu schonen.
Ich fühle mich eingezäunt. Die Sehnsucht nach einem Ort, wo die Natur nicht in homöopathischen Mengen und nur nach Rezept verabreicht wird, kommt in mir vehement hoch. Es ist paradox: Sel­ten habe ich die Enge Mitteleuropas so stark empfunden wie hier, in diesem eher menschenleeren Winkel.
Auf dem Rückweg bin ich kurzzeitig so sehr darauf konzentriert, eine interessante Wurzelstruktur zu fotografieren, dass ich nicht sofort wahrnehme, dass ein paar Schritte weiter, direkt am Weg­rand (und nicht etwa auf einer Wiese) eine alte Frau auf dem Boden liegt. Als ich sie bemerke, erschrecke ich zunächst, denke an das Schlimmste, merke aber schnell, dass sie nur schläft. So ziehe ich so geräuschlos wie möglich weiter, am Fernsehturm vorbei durch die "unzugängliche" Wildnis, und komme bald zu einer breiten Schneise, die nach unten zum cerny jezero (schwarzen See) führt.
Einer deutschen Wan­dergruppe
- an den roten Knie­strümp­fen ist sie als solche erkennbar - wird von ihrem Frem­den­füh­rer gerade erläutert, dass diese Schneise, die so harm­los wie eine Skipiste aus­sieht, einstmals der Eiserne Vor­hang war. Das Verbotsschild, sagt er verschmitzt, gab es früher auch schon, nur war es damals das Grenzgebiet, das man nicht betre­ten durfte, heute ist es die Natur­schutzzone. Geschossen, fügt er hinzu, wird heute aber nicht mehr.
Kurz darauf, ich bin gerade dabei, meinen Proviant anzugreifen, sehe ich die "Tote", wie sie mir frisch und munter entgegenkommt. Mir fallen sofort ihre Finger und ihr Mund auf, die von Hei­del­beeren dunkelblau gefärbt sind, und ich kann mich nicht dem Eindruck entziehen, sie sei aus ärmlichen Verhältnissen, woraus ich schließe, sie sei aus Tschechien. Beim näheren Hinsehen erkenne ich aber - wie könnte ich es formulieren? - eine vernachlässigte Eleganz in ihrem Äuße­rem, und vermute nun, dass sie aus der Bundesrepublik komme. Was sich, als sie mich mit akzentfreiem Deutsch anspricht, auch bestätigt.
Es entwickelt sich ein kurzes, interessantes Gespräch. Sie erzählt mir von der Zeit unmittelbar nach Kriegsende in Prag. Wie sie als Volksdeutsche ein Jahr lang von den Revolutionsgarden in einem Internierungslager fest gehalten worden sei, und wie ihre kleine Tochter dabei ums Leben gekommen sei. Als sie merkt, dass ich interessiert zuhöre, fährt sie mit dem Erzählen fort. Sie schildert, wie sie zusammen mit einer tschechischen Frau, einer Kollaborateurin, unterwegs zu einem Inter­nie­rungs­lager außerhalb Prags bei einem Kloster angeklopft habe, um nach Essen für ihre Kinder (die Tschechin hatte auch eines) zu bitten. Als Gegenleistung habe sie den Schwestern das Angebot gemach, im Kloster zu putzen. Denn - so sagt sie und verrät dabei einen nicht gerin­gen Intellekt - wie immer während einer Revolution, wenn der Pöbel regiert, finde man kaum je­manden, der diese "niederen" Arbeiten machen wolle. Von den in christlicher Liebe wohl nicht sehr beseelten Nonnen seien die beiden Frauen aber der Tür verwiesen worden. So sei ihr Kind ver­hun­gert, sagt sie, aber ich spüre kaum noch Bitterkeit in ihrem Ton, es ist, als ob sie über jemand anderen spräche.
Es ist leicht zu verstehen, dass sie seit den damaligen Ereignissen nicht gut auf die katholische Kirche zu sprechen ist und warum sie sich ärgert, wenn sie beobachten muss, wie genau diese Kirche in Tschechien wieder mächtig wird. Quasi um das zu beweisen, fragt sie mich, ob ich denn bemerkt hätte, wie viele Gotteshäuser seit der Wende bereits renoviert worden seien. Es ist merkwürdig, wie sie all das ohne Bitterkeit schildern kann, ihre Kindheit in Troppau, die Jugend­jahre in Prag, wo sie bis zum Kriegsende zur Schule ging, den Verlust der Heimat. In einer Groß­stadt, sagt sie, als müsste sie sich entschuldigen, sei die Anonymität und die Austauschbarkeit groß, im Gegensatz zum Leben auf dem Land. Für einen Bauern bedeutet Heimatverlust viel mehr. Ich könnte ihr noch länger zuhören. Wie interessant sind oft alte Menschen, diese wandelnde Geschichtsbücher, im Vergleich zu den unerfahrenen, unbeschriebenen jungen.
Gruselige Geschichten erzählt man über den Schwarzen See. So sollen im nur 4° C kaltem Wasser in 40 Meter Tiefe konservierte und unverweste Leichen liegen. Wahr ist nur, dass einige von den Nazis am Ende des zweiten Weltkrieges in den See gekippte Dokumente im Jahr 1965 aus dem Wasser geborgen wurden. Dieser Gletschersee, der größte im Böhmerwald, liegt 1008 Meter hoch und wird durch eine unzugängliche Felswand, die auf mich aber nicht besonders beeindruckend wirkt, begrenzt. Der Zugang zu diesem unzugänglichen Stück Natur ist - könnte es anders sein? - asphaltiert.
Als die Sonne ihrem Untergang zu­neigt, blicke ich im weichen, gol­denen Licht des Spät­nachmittags diese Wald­land­schaft an, denke an die uner­mess­lich tiefen Wälder, wie sie der gro­ße Böhmerwaldpoet beschrieben hat und sinniere vor mich hin. Und plötzlich, inspiriert von dieser Ge­müts­lage, wird mir mein sehnlichster Wunsch klar: der Zu­gang zu "authentischen" Men­schen und unverfälschten Umge­bun­gen. Ich will keine vorgekaute Natur, mit Eintrittskarte für Pau­schal­reisende!
Zelena Lhota, abends
Im Café Vera bekommt man - kaum zu glauben - Zwetschgenknödel. Sie machen zwar den Eindruck, aus der Tiefkühltruhe zu sein, aber immerhin. Zum verdauen brauche ich dann eine Becherovka.
In dieser kleinen, eher gemütlich eingerichteten Gaststätte ist das ganze Dorf versammelt. Links von mir sitzt ein sehr schweigsames Paar, sie korpulent, pausbackig und blond, er mehr zu den älteren Jahrgängen gehörend, mit dunklem, schwarzen Bart und ernstem Blick. Sie wechseln kaum ein Wort. Ansonsten scheint es, als würde jeder auch für alle anderen im Raum sprechen. Auch die Deutschen, die am großen Tisch mit paní Olina sitzen, gehören zu dieser Öffentlichkeit. Einer, in dunkelgrüner Jägertracht, spricht Bayrisch mit sehr derbem Akzent, sein Nachbar antwortet auf Tschechisch. Die dicke Frau im geblümten Arbeitskittel spricht auch Bayerisch, es wird von einer Raumecke zur anderen gerufen, man unterhält sich über alle Tische hinweg, in einem Mischmasch, der nur verständlich wird, wenn man weiß, dass es nur um die Geselligkeit geht, nicht um das, was man sich zu sagen hat. Es geht um Promillegrenzen beim Autofahren, um Preisvergleiche drüben-hier, um Gewehre mit Zielfernrohr, um Warenmengen, die man an der Grenze zollfrei einführen darf, um Schnaps und andere Erfreulichkeiten. Und es wird gelacht und gegessen und getrunken, und ich fühle mich unbehaglich in meiner Reserviertheit, nicht dazugehörend, nichtsverstehend, fremd. Rechts von mir sitzt der Dorftrottel und starrt mich eine Weile an. Als ich wieder draußen in der Halbdunkelheit der Mondnacht bin, fühle ich mich erleichtert.
Srni, 14. Oktober
Das habe ich nun davon. Die Schuhe sind repariert, ich sollte besser sagen: geflickt. Ich selbst konnte zusehen, dass nicht etwa die ganze Ledersohle ersetzt wurde, sondern lediglich ein vier­eckiges Stück Leder auf das Loch geklebt wurde, flach gehämmert, die Ränder mit einem schar­fem Messer abgeschrägt, um das Ganze abzuflachen, dann mit der Profilsohle überklebt. Ein paar Nägelchen zum festmachen, einen schwarzen Lack seitlich drauf gestrichen - fertig.
Aber weil ich schon in Nyrsko war, habe ich mich auch mit Waren eingedeckt: mit verschiedenen Marmeladen, Powidl, Becherovka-Schnaps, sowie mit Semmel- und Kartoffelknödeln, als Trocken­mischung zum selber machen. Letztes hat mir die alte Dame gestern noch empfohlen.
Das Einkaufen entwickelte sich zu einem Test meiner Sprachkenntnisse. Ergebnis: In einem der Lebens­mittelgeschäfte, als ich nach den oben genannten Fertiggerichten fragte, wurde ich freund­lichst auf ein Restaurant verwiesen.
Nachmittags zog es mich dann et­was weiter ostwärts. Die Gegend, ein Hochplateau, das direkt an den Nationalpark Bayerischer Wald an­grenzt, ist vielleicht die schönste vom ganzen Böhmerwald. Jedenfalls die, die meinem Gemüt am meisten zusagt. Hier sind die Weiten zu finden, die ich so liebe, die Einsamkeit, die mir das Gefühl vermittelt, ich sei in der großen Wildnis am entferntesten Platz der Welt. Es mag daran liegen, dass hier nicht nur die ausgedehnten Wälder den Charakter der Land­schaft ausmachen.
Große, offene Brachflächen, darin mäandernde Wasserläufe, im Hochgras stehende Birken­grup­pen, Latschen­fel­der und unzählige kleine oder große Torfmoore, so­genannte "Filze", machen das Reiz­volle dieses Gebiets aus. Heute ist der Himmel wieder kla­rer, der graue Schleier, der mich gestern daran gehindert hat­te, die weiten Landschaften des Küni­schen Gebirges zu foto­gra­fie­ren, ist wie weggehaucht. Die Herbst­at­mosphäre ist bezaubernd.
Müde vom langen Fahren und Schauen bin ich auf eine entnervende, lange Zimmersuche vorbe­rei­tet, finde aber dann unerwartet rasch in der "Halbeinsamkeit im Wald" (so das Prospekt der Pen­sion Hrátky) eine Unterkunft. Das Haus ist im Jagdhüttenstil gebaut, außen und innen mit viel Holz ausgestattet, es bietet dem Gast eine gemütliche Stube und, was nicht zu unterschätzen ist, eine abwechslungsreiche Speisekarte. Ich entscheide mich für eine "Wildschweinkeule in Hagebutten-Rahmsauce mit Semmelknödeln", und werde nicht enttäuscht. Und weil die Zufälle nie groß genug sein können, unterhalte ich mich, der Österreicher aus Italien und Deutschlan, mit einem netten jun­gen Paar aus Mailand vom Tisch nebenan. Die Stube ist klein, gemütlich eingerichtet, mit Wild­schwein- und Hirschfellen an Wänden und Decke und - es nimmt dem Raum nichts an seiner Be­hag­lichkeit - eine Coca-Cola-Uhr an der Wand, Coca-Cola-Deckchen auf den Tischen und Camel-Aschenbecher als Symbole für den unaufhaltsamen Sieg des Kapitalismus!
Srni, 15. Oktober
Da ist etwas, was ich nicht verstehe. In einem Fotobuch von Karel Kuklík sind wunderschöne Auf­nahmen zu sehen von den Weißenbach-Wasserfällen (Bily Potok), ebenfalls Fotos vom eingezäun­ten Kubani Urwald, von den Weitfäller Filzen und weiteren Hochmooren, also von Landschafts­ge­bie­ten, die unter strengstem Naturschutz stehen. An der Qualität und Vielfalt dieser Bilder erkennt man, dass sie nicht nur bei einem kleinen Überschreiten der Nationalparkgrenzen gemacht werden konnten.
Die Schilder sind nicht zu über­sehen. Die Wanderwege sind gut markiert in grün, rot, blau und gelb, sie führen vorzüglich bis an den Rand der wunderschönsten Land­schaften, am Rande der herr­lich­sten, wild rauschenden Bäche und Flüsse, an Torfmooren sowie an dunklen Wäldern vorbei, sind als vorzügliche Natur­lehr­pfade sehr gut beschildert, aber haben einen kapitalen Schönheitsfehler: Das Verlassen derselben ist ver­boten! Wenn ich mich immer da­ran gehalten hätte, dann hätte ich kaum fotografieren können.
Schon gar nicht den roman­tisch­sten Wasserlauf des Böhmer­walds, die Vydra, mit seinen gi­gan­ti­schen Granit- und Glimmer­schie­ferblöcken im Flussbett, seine Stromschnellen und Ufer­vegetation, nicht den Hamer­sky Bach, Prototyp eines wilden, ver­wachsenen, gewun­de­nen, rausch­enden, freien Wild­baches. Auch hier bewirken die zahlreichen großen und kleinen Stein­blöcke sprudelnde Kaskaden, kleine Stromschnellen, Wirbel, ruhige Randtümpel, und sorgen ver­mo­dernde, moosbewachsene um­gefallene Baumstämme für Unzu­gäng­lichkeit und einen faszinierenden Urwaldcharakter.
Ich lese im Wanderführer nach. Meine heutige Wanderung von Antigl, der Vydra entlang, über den Zhursky potok und Zhury nach Horska Kvilda und zurück, hatte eine Tourenlänge von etwa 14 Kilometern.
Zum Abschluss des Tages gab es in der Pension Marillenknödel! Welch eine Überraschung als ich merkte, dass sie aus Germteig waren und wie die kleinen Geschwister der österreichischen Germ­knödel schmeckten. Ach ja, noch eines - mit Schlagsahne (Schlagobers)! Auch hier im Böhmer­wald haben Schlagsahne und Pommes frites ihren totalitären Einzug gemacht.