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Samstag, 12. November 2011 |
Buenos Aires - Betrachtungen |
Mein Versuch, den Zustand „In-Buenos-Aires-zu-sein“ zu beschreiben,
ist zum Scheitern verurteilt. Die kleinen Nuancen fallen durch die Maschen meiner Beobachtungsgabe und hinterlassen nur
Spuren von Gefühlen im Kurzzeitgedächtnis, die sich im Bruchteil einer Sekunde wieder auflösen. |
Was ich in meinem Bewusstsein halten kann, ist nur das Offensichtliche.
Beispielsweise der überbordende, laute, die Luft verpestende Verkehr in der Innenstadt – und nicht nur dort. Da
lassen die bescheidenen Versuche der Verkehrsplaner, Fahrradspuren einzurichten und an mehreren Stellen Fahrräder kostenlos
zur Verfügung zu stellen, nur ein müdes Lächeln zu: ein Tropfen auf dem heißen (Pflaster)stein. Auffällig ist
in diesem Verkehr auch die große Anzahl Taxis. Die Autos mit dem gelben Dach sind nicht zu übersehen und sie müssen
offensichtlich auch für die Porteños erschwinglich sein, denn wenn man am Straßenrand einen Arm hebt, um eines
von ihnen anzuhalten, stellt man meistens fest, dass es bereits besetzt ist. |
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Booking.com
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Tagsüber kann man die „paseadores de
perros“ , die Hundeausführer, kaum übersehen, die Trauben von Vierbeinern durch die Parkanlagen der
bürgerlichen Viertel führen; und spätabends fehlen niemals die „cartoneros“ , die zu bemitleidenden
Beweise für das Ausmaß von Armut in Argentinien. Sie arbeiten sich zu später Stunde durch die am Straßenrand
jeden Tag aufgestapelten Müllsäcke, um Pappe, Papier und sonstige weiterverwendbare Werkstoffe zu sammeln - eine Art Recycling
als Lebenserwerb für die Vergessenen der Gesellschaft.
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Was mir auch diesmal auffällt, das sind jene verhärmten, fast
„ätherischen“ Gestalten, denen man mit nur ein wenig Gespür die Zugehörigkeit zu einer
„besseren“ sozialen Schicht ansehen kann, dasselbe aber nur in der Vergangenheitsform, denn die
zerschlissenen Kleider und der meist hoffnungslose Gesichtsausdruck dokumentieren den sozialen Abstieg auf unbarmherzige Weise. |
Dass eine faszinierende Stadt alles andere als schön sein kann, dafür
ist Buenos Aires ein herausragender Beweis. Das alte koloniale Buenos Aires, wovon die Plaza de Mayo ein beeindruckendes
Beispiel ist, ist nur noch in Spurenelementen zu finden. Auch die Architektur, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die
italienischen Städte und später Paris zum Vorbild genommen hatte, ist nahezu verschwunden. Die wenige
Stockwerke hohen Häuser dieser Zeit, mit ihren Mansardendächern und Balkonen mit schmiedeeisernen Ziergittern sind heute
eingepfercht zwischen gesichtslosen Wohn- und Bürotürmen. Die „Moderne“ mit seinem ungezügelten Wuchern hat
ohne jede Rücksicht auf stilistische Anpassung oder städtebauliche Konzepte zehn- und mehrstöckige Scheußlichkeiten in
den Boden dieser ehemals zweifelsohne schönen Stadt gerammt. |
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Diese Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit
gegenüber dem Erscheinungsbild der Stadt erlaubt aber keine Schlüsse auf das kulturelle Leben der Stadt. Das Teatro
Colón ist eines der größten Opernhäuser der Welt. Es gibt Symphonieorchester und Chöre, Museen aller Art,
Kunstsammlungen und Bibliotheken und die größte Konzentration von Theatern in Lateinamerika. Man sieht die
Porteños um Theaterkarten Schlange stehen. Die Buchhandlungsdichte ist eine der höchsten der Welt. Um ein Beispiel zu
nennen, das ich vom „gebildeten“ Europa kaum kenne: Vor einem Buchladen hatte sich eine mehr als hundert Meter
lange Menschenschlange gebildet. Jeder der Wartenden hatte ein Buch der Schriftstellerin Florencia Bonelli unterm Arm,
eine wohl hierzulande bekannte Autorin, die gerade Signierstunde hatte. Bei uns gibt es solche Schlangen nur, wenn Jugendliche sich vor
einem Apple-Laden darum reißen, das neueste iPhone zu ergattern. |
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Im Café |
Was für ein Kontrast: Im Fernsehen - in jedem Café oder
Restaurant sorgt ein mehr oder weniger großer Flachbildschirm für die ununterbrochene Berieselung der Anwesenden -
läuft eine jener unerträglichen Sendungen, in denen eine gut aussehende „Moderatorin“ mit „Prominenten“
spricht und die Zuhörer mit ihrem oberflächlichen Geschwätz überschwemmt. Ganz im Kontrast dazu umgibt mich in
diesem Saal eine herzerfrischende Ansammlung von stinknormalen Menschen, vermutlich allesamt Stammgäste aus dem
barrio (Viertel), die das Schicksal ihres unscheinbaren Antlitzes und ihrer Bedeutungslosigkeit mit Gelassenheit ertragen.
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BUCHEMPFEHLUNG |
Buenos Aires - Eine
literarische Einladung: Zahlreiche erstmals ins Deutsche übersetzte Texte von César Aira, Roberto Arlt, Jorge Luis Borges, Martín Caparrós, Julio Cortázar, Mariana Enríquez, Leila Guerriero und vielen mehr führen durch die faszinierende multikulturelle Metropole am Río de la Plata. |
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Sonntag, 13. November |
Friedhof La Recoleta |
„La eternidad es solo el principio“ (Die Ewigkeit ist nur
der Anfang). |
Der 1881 angelegte monumentale Friedhof La Recoleta liegt im
gleichnamigen Stadtteil Recoleta, einem der teuersten Wohnviertel von Buenos Aires. Er ist die letzte
Ruhestätte zahlreicher wohlhabender und prominenter Einwohner. Hier wurden argentinische Präsidenten,
Profisportler, Wissenschaftler und Schauspieler bestattet. |
Ob ich wüsste, wo das Grab Evita Perons zu finden sei, fragt mich der
joviale Mann, den sein breiter Akzent und die winzige „Kippa“ auf dem Hinterkopf als US-amerikanischen Juden
ausweisen. Dass ich mich im kleinen weltberühmten Friedhof verlaufen habe, ist mir gar nicht aufgefallen, so verweise ich ihn auf
den – vermeintlich nahen – Haupteingang, wo ein Plan des Friedhofs die Besucher informiert. Es sei das Grab
88, füge ich hinzu, ohne zu wissen, dass dieses nur wenige Schritte von uns entfernt liegt. Später treffe ich den
Mann wieder in der Nähe des Ausgangs. „Ich hoffe, er habe trotz meiner Hilfe das Grab gefunden“ , werfe ich
lächelnd ein, worauf er laut auflacht und mir mit der Hand kräftig auf die Schulter schlägt. Ich liebe diese
unmittelbare Kontaktfreude der Amerikaner! |
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Das, was alle Reiseleiter ihren Touristen-Herden vor Evitas
Grab erzählen, kenne ich bereits aus den verschiedenen Biografien, die ich über diese faszinierende Frau gelesen habe. Vor
allem das, was die jahrelange Odyssee ihres einbalsamierten Leichnams betrifft. Der Mythos „Eva Peron“ hält in Argentinien immer noch an. Am
Jahrestag des verfrühten Todes der „Heiligen Evita“ stapelt sich immer wieder eine Fülle von
Blumensträußen vor ihrem Grab. Die Geschichte hat längst ihr Urteil gefällt. Dass Evita ungebildet,
nachtragend, eitel und keinesfalls von demokratischer Gesinnung war, schmälert ihre Verdienste als „Engel der
Armen“ nicht im Geringsten. Was Eva Peron mit ihrer Stiftung, die in der Hauptsache aus den erzwungenen Beiträgen der oberen
Zehntausend finanziert wurde, tat, war nichts anderes als eine Vorwegnahme des Sozialstaats mit anderen
Mitteln. |
Im Angesicht eines solchen Monumentalfriedhofs, dessen
Hauptzweck es nie war, die Erinnerung an geliebte Menschen wach zu halten, sondern vielmehr die Eitelkeit von Sippen und Gemeinschaften zu
befriedigen, wird mir noch mehr bewusst, dass niemand vor dem Vergessen bewahrt werden kann. Schall und Rauch! Wer erinnert
sich noch an diese in Marmor und Pomp verewigten Personen? Wer war beispielsweise dieser Manuel J. Campos, der sich
mit einem prächtigen Grab verewigen wollte? Wem interessiert es heute noch, dass er am Paraguayischen Krieg und an der
berüchtigten „Eroberung der Wüste“ teilnahm? Und wer erinnert sich an Juan Alberto Lartigau? |
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Und wer war Rufina Cambaceres? Über diese junge
hübsche Frau, die 1902 im Alter von 19 Jahren starb, ist immerhin eine traurig-gruselige Geschichte überliefert
worden. Am schicksalhaften Tag ihres 19. Geburtstags wurde ihr von einem Freund ein Geheimnis offenbart. Demnach
hätte ihre eigene Mutter Luisa eine Affäre mit Rufinas Verlobten gehabt. Das Herz der jungen Frau brach daraufhin in tausend
Stücke. Ein Zimmermädchen fand sie leblos auf dem Boden. Drei Ärzte stellten ihren Tod fest. |
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Die verzweifelte Mutter ließ sie im
Recoleta-Friedhof bestatten. Als kurz vor der vorgesehenen Einäscherung ihr Sarg ein letztes Mal
geöffnet wurde, fand man Kratzspuren an der inneren Fläche des Deckels und auch Rufinas Gesicht war schwer
zerkratzt. Man kam zum Schluss, dass Rufina zunächst gar nicht gestorben war, sondern einen Katalepsie-Anfall erlitten
hatte. Bei dieser Störung sind Atmung, Herz- und Pulsschlag manchmal so schwach, dass man sie kaum wahrnehmen kann.
Irgendwann muss Rufina aus dem Zustand erwacht sein und verzweifelt versucht haben, sich zu befreien. Schließlich starb sie
– diesmal wirklich – an einem Herzschlag. Eine gruselige Geschichte, wie sie Edgar Allan Poe mit seiner Erzählung
„Lebendig begraben“ nicht besser hätte ersinnen können. |
Die wunderschöne Jugendstil-Grabstätte widerspiegelt
die Schönheit und die Traurigkeit dieses kurzen Lebens. Reisender, wenn du nach Recoleta kommst, schau doch bei ihr
vorbei. |
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