Montag, 24 November
Am Ende der Welt?
Auf der Rückfahrt zieht es mich fast hypnotisch wieder nach Jaramillo. Weshalb das so ist? Viel­leicht, weil dieser kleine Ort weit hinten in Pa­ta­gonien für mich zu einer Art Symbol für Welt­ab­ge­schie­denheit geworden ist! Und das, obwohl in der heutigen Zeit, in der Mobilität und Medien die Menschen immer stärker verbinden, dieser Begriff längst seine Absolutheit eingebüßt hat. 
In Jaramillo
Bei aller Faszination! Mir vorzustellen, dass dieser Ort für irgend jemanden jahraus, jahrein der Mittelpunkt des Lebens ist, fällt mir äußerst schwer. Mir ist zwar bewusst, dass jeder Ort und jede Lebensbedingung auf die Dauer ganz zwangsläufig zur Selbstverständlichkeit wer­den, ers­terer zum Mittelpunkt der eigenen Welt. Doch kann man sich auch damit iden­ti­fizieren?
In Jaramillo
Für mich, dem ein überbevölkerter Teil der Welt immer Aufenthaltsort war und dessen Leben, wenn man einmal vom Urlaub absieht, sich größtenteils zwischen Büro, Kaufhaus und Fern­se­her abgespielt hat, hat diese Ab­ge­schie­den­heit etwas Abschreckendes und Faszinierendes zu­gleich. Abschreckend, weil mir diese Reiz­ar­mut, dieses Sich-beschränken-müssen auf immer die selben Dinge und die selben Menschen als das Ende jeglichen Geistes erscheint. Faszinierend, aber, weil mich das Gedankenspiel, mich in manch „fremdes“ Leben hi­nein­zu­ver­set­zen, schon immer beflü­gelt hat. Der Grund dafür muss wohl in der quälenden Tatsache liegen, dass es auf der Welt zwar eine unendlich große Palette von völlig andersartigen Lebens­umständen gibt und in der Zeit ge­ge­ben hat, ich selbst aber nur eine einzige ausprobieren konnte.
Reisen als Dauerzustand
Wer schrieb das? „Die Grenzenlosigkeit der Pampa hindert einen daran, an irgend einem Ort Halt zu machen. Je mehr man reitet, um so mehr weicht der Horizont zurück. Deshalb reitet man wei­ter, um zu erfahren, ob der Horizont aufhört oder sich fortsetzt“.
Atlantikküste südlich von Comodoro Rivadavia
Nur noch 90 Km bis Sar­miento. Der Ben­zin­an­zeiger nähert sich dem roten Bereich. Rechts und links saust eine Landschaft an mir vorbei, die außer einer Reihe von Erdöl-För­der­pumpen nur triste Ver­las­sen­heit zu bieten hat. Weit und breit ist keine Tankstelle in Sicht. Ich kann nicht leug­nen, dass sich eine leichte Ver­un­si­che­rung bei mir eingeschlichen hat. Aber ist es nicht gerade die per­ma­nen­te, Neugier wecken­de „Un­ge­wiss­heit“, die die Quintessenz des Reisens ausmacht?
Auf Reisen benötige ich immer eine gewisse Eingewöhnungszeit, bis ich jenen Zustand erreicht ha­be, bei dem sich meine Sehnsucht nach einem Frühstück mit frischen Brezen, nach einem „rich­ti­gen“ Wiener Schnitzel oder einem typisch deutschen Regentag aufgelöst hat und aus den Orten, durch die ich reise, ein sich ständig verwandelndes „Zuhause“ wird. Nicht immer gelingt dieser Zau­bertrick. Manchmal ist mir die Überwindung des unvermeidlichen Reisekollers – statistisch tritt er bei mir nach drei Wochen auf – schier unmöglich und mein Schwung geht dann verloren. Aber wenn das Wunder stattfindet und ich nur im Hier und Jetzt zu bleiben vermag, dann verlieren Zeit und Heimweh ihre Bedeutung. Dann bin ich – wenn auch nie an einem einzigen Ort – wirklich an­gekommen.

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Sarmiento, Salón de Té La Abuela Alicia
Nach langer, schließlich erfolgreicher Unter­kunfts­suche finde ich einen kleinen „Tee-Salon“, um mich von der an­stren­gen­den Fahrt zu erholen. Das Ambiente ist familär, man kommt gleich ins Gespräch und bei einer heißen Tasse Tee vertiefe ich mich in meine Reiselektüre.
Als Francisco Pietrobelli, ein italienischer Un­ter­nehmer und Abenteurer, der 1888 nach Argentinien gekommen war und an dem Bau der Eisenbahnstrecke Puerto MadrynTrelew teil­ge­nom­men hat­te, nach Pro­jekt­ab­schluss weiter in den Süden zog, traf er auf ein Tal, das er als „Valle Ideal“ (das ideale Tal) bezeichnete. Ein paar Jahre später kehrte er zusammen mit fünf walisischen und einer litauischen Familie in dieses „ideale“ Tal zurück, um sich dort an­zusiedeln.
Am 21. Juni 1897 unterschrieb schließlich der argentinische Präsident José Evaristo Uriburu ein Dekret, mit dem die inzwischen auf 17 Ge­mein­schaften aus verschie­de­nen Ländern an­ge­wach­sene Siedlung als Colonia Pastorial Sar­miento offiziell ge­grün­det wurde. 1902, nach der Niederlage im zwei­ten Burenkrieg erreichten 120 Buren aus Süd­afri­ka die neue Siedlung. Ihre Nachkommen machen auch heute noch einen großen Teil der Bevölkerung aus. Sie sprechen Afrikaans und be­suchen bis heute die nie­der­län­disch-reformierte Kirche.

BUCHEMPFEHLUNG
Patagonien: Das südliche Ende der Welt: Wüsten, Fjord­land­schaften, Steppen, Vul­kane, Gletscher - feuch­te und kühle Regen­wald­ge­bie­te im Westen, eine karge, tro­ck­ene Step­pen­land­schaft im Osten. Reiner Sahm hat wun­der­bare Aufnahmen aus der „Heimat der Winde“ mitgebracht.

Heute leben die etwa 8000 Einwohner von Sarmiento hauptsächlich von der Landwirtschaft (dem Anbau von Kirschen und Erdbeeren), vom Tourismus und von der Erdölindustrie, dem größten Wirt­schafts­zweig der Region. In früheren Zeiten hatten die Öl-Gesellschaften Zeltlager für ihre Arbeiter eingerichtet, wo diese jeweils an zwanzig aufeinander folgenden Tagen arbeiten mussten, um dann für jeweils fünf Tage zu ihren Familien zurückkehren zu können. Heute fahren die Arbei­ter jeden Tag zu ihrer manchmal bis zu 100 Km entfernten Arbeitsstelle. Die Fahrtzeiten werden ihnen so­gar teilweise auf die Arbeitzeit angerechnet. So jedenfalls erklärt es mir die Inhaberin des kleinen, intimen Salon de Té, wo ich bei einer guten Tasse Tee den Abend ver­ab­schiede. Den drei Männern zuzuschauen, die am Nebentisch still und konzentriert ihre Schach­par­tien spielen, ver­setzt mich bald in einen unerwarteten Zustand des inneren Friedens.
Schachspieler im Teesalon
Dienstag, 25 November
Bosque petrificado José Ormachea
Mir ist wirklich nicht zu helfen! Über meine Fahrt zum berühmten Ver­stei­nerten Wald von Sar­miento lasse ich einzig und allein das Licht ent­schei­den. Und weil mir der Gedanke an das grelle Mittags­licht, das unausweichlich der Landschaft die Plastizität raubt und ihre Farben dämpft, ein Gräuel ist, mache ich mir reinen Gewissens einen gemütlichen Morgen und verlege die Besichtigung auf den Nachmittag. Wir befinden uns noch außerhalb der Hochsaison, die vom 15. Dezember bis zum 15. März geht. Erst dann wird zwei Mal am Tag ein Colectivo des Verkehrsbüros zum Bosque petrifi­ca­do verkehren, der über eine etwa 30 Kilometer lange Schot­ter­pis­te (ripio!)zu erreichen ist. Was für ein Glück! Denn die Perspektive, keinen Ansturm von Besuchern zu finden und selbst bestimmen zu können, wie lange ich bleibe, verschafft mir ein äußerst angenehmes Gefühl.
Erst am frühen Nachmittag verlasse ich also mit meinem „Chevrolet“ den Stadtkern von Sar­mien­to, biege an der großen Tankstelle rechts in die Ruta 20 ab und nach weniger als hundert Metern links in die Schotterstraße, die mich ans Ziel führen soll. Ich folge dem „camino de ripio“ – so wird hier eine nicht asphaltierte Straße genannt – anfangs mit äußerster Vorsicht, denn die Sorge, mein Gefährt – beispielsweise durch Steinschlag – zu beschädigen, nimmt mir jegliche Gelassen­heit. Aber schließlich fahre ich mich ein. Eine ziemlich einförmige Landschaft zieht an mir vor­bei. Rechts und links von der Straße sind nur Zäune, Weiden und Schwemmland mit kleinen Seen zu sehen. Erst kurz vor dem Ziel bekommt die Landschaft den erwarteten bizarren Charakter.
Landschaft im „Versteinerten Wald“
Trotz des platten Lichts besticht die kahle Hügellandschaft des „Waldes“ bei Sarmiento durch eine fast überirdische Leichtigkeit und durch die Vielfalt ihrer Formen. Die Einsamkeit, die Weite und die großartigen, fremdartigen Felsformationen gelten für mich als Metapher für unberührte Landschaft. Das Tal, dass sich mir zeigt, wird als „Valle de la Luna“ (Mondtal) bezeichnet. Überall verstreut sieht man die versteinerten Stämme und die Splitter von Araukarien, die hier vor mehr als 60 Mil­lionen Jahren lebten, einige an der Oberfläche liegend, andere, wie verwurzelt aus der Erde he­raus­tre­tend, schei­nen sich wie riesige eingeschlagene und abgebrochene Speere in den Unter­grund fest­ge­kral­lt zu haben. Der Anblick hat etwas Unwirkliches, End­zeit­mäßiges. Es fällt schwer, zu glauben, dass diese wüs­ten­artige Ero­sions­land­schaft vor Millionen Jahren mit riesigen bis zu 100 Meter hohen Arau­karien be­wachsen war.
Versteinerter Baumstamm
Ein versteinerter Wald ist ein fossiler Wald, des­sen Bestandteile durch den Prozess der Ver­kie­se­lung (Einbau von Kieselsäure) erhalten blei­ben konnten. Damit Holz versteinern kann, darf es zu­nächst nicht verrotten, was nur in einem vor Mikroorganismen geschützten Milieu geschehen kann, in dem die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wird. Ein derartiges Milieu entsteht z.B.wenn das Holz in Flüssen, Seen oder auch im Meer abgelagert und schnell mit Sediment bedeckt wird. Auch die Einbettung in vulkanischen Aschen und Tuffen nach einem Vulkanausbruch kann dies bewirken. Die Verkieselung der Hölzer kann nur dort geschehen, wo auch größere Men­gen Kie­sel­säure (SiO2) zur Verfügung stehen. Ein solches Milieu findet sich beispielsweise in vulka­nischen Ablagerungen. Das ist ein Grund dafür, dass viele versteinerte Wälder in Regionen mit früherer vulkanischer Aktivität zu finden sind. Aber auch in den Sedimenten von Flüssen und Seen kann ein Milieu entstehen, das diesen Prozess ermöglicht.
Versteinerter Baumstamm
In den folgenden Stunden irre ich wie in einem Traum in der leblosen, eigenwillig geformten Wüs­tenlandschaft umher, ständig versuchend, mir zu vergegenwärtigen, wie diese Formen in Jahr­tau­sen­den, durch die Einwirkung von Erd­be­ben, Vulkanausbrüchen und den Erosionskräften von Wind und Wasser entstehen konnten. Ich marschiere neugierig zwischen ausgehöhlten Baumstumpfen und trockenem Gestrüpp umher, folge in der staubigen Hitze des Mondtals den Windungen eines ausgetrockneten Baches, stapfe ziellos auf dem gummiweichen Boden runder Lehmhügelkuppen herum, wecke die Auf­merk­sam­keit eines grauen Fuchses, ignoriere die Mückenstiche, wandere genüsslich zwischen den Zacken bizarrer Felsformationen, zerfurchten Hängen und Steilabbrüchen und lasse die Zeit ihre Wirkung auf mich ausüben.
Bizarre Felsformationen
Rote Erosionslandschaften
Der Nachmittag gehört mir. Keine ungeduldige Reisegruppe wartet auf mich, keine innere Unruhe mindert mein Erlebnis. Während das Licht schmeichelnder wird und ein sanfter Wind die Hitze mil­dert, klettere ich auf die kahlen grauen Lehmkuppen, die wie die Wurzeln eines Baumes sich vor den rotbraunen, von Eisenerzen getönten Felswänden ausbreiten. Von dort oben sieht die Weite noch unendlicher aus. Keine Men­schen­stim­me übertönt das Säuseln des Windes.
Grauer Andenfuchs
Vom Licht
Ich bin milde gestimmt. Wie die Luft. Wie das Licht, das wieder einmal zugeschlagen hat und mein Gemüt fest im Griff hält. Ich kann es nicht beschreiben, man muss es sehen: in seiner Klarheit, in seinen Farben, in seiner Intensität. So oft, wie ich es mir bei Antritt der Reise erhofft hatte, gab es dieses verführende, verzaubernde Licht gar nicht. Ich kann zurück an die warme Intimität des letzten Abends in Puerto Iguazu denken, an das Dunkelwerden auf dem Haupt­platz von San Anto­nio de Areco, an den Augenblick meiner Ankunft und an die Explosion der spätnachmittäglichen Farben des zweiten Tages in Puerto Deseado, und jetzt kann ich an diesem Abend in Sarmiento nicht anders, als das Abendessen zu verschieben, nur um in dieses wunderbare Leuchten ein­tauchen zu können.