Samstag, 1. November
Fahrt nach Posadas
Die gigantischen Iguazú-Was­ser­fälle und der gleich­na­mige Nationalpark liegen im äußersten Nor­den der Provinz Misiones, im Dreiländereck Brasilien, Pa­raguay und Ar­gentinien. Misiones liegtwie­derum im äußersten Nord­os­ten Ar­gen­ti­niens, wie ein Pfannenstiel zwischen Para­guay und Bra­silien ein­ge­zwängt. Die Hauptstadt ist Posadas, am Río Paraná. Das Terrain ist na­he­zu durch­ge­hend hügelig und, mit Ausnahme der land­wirt­schaft­lich ge­nutz­ten Fläche und der üppigen Wei­den, von dichten Regenwäldern bedeckt.
Was mich während der an und für sich ziemlich eintönigen Fahrt nach Posadas fasziniert, ist der Kontrast zwischen der tiefgrünen Vegetation und der auf hohen Eisenoxydgehalt zurück­zu­füh­ren­den roten Erde.
Die rote Erde von Misiones
Es sind hauptsächlich diese Farb­ein­drücke, die sich mir während der mehr­stündigen Fahrt einprägen, und die mich ganz unbewusst für diese Ge­gend einen Vermerk eintragen lassen in das nur in meinen Gedanken existierende Verzeichnis von wün­schenswerten zukünftigen Reisen.
Es regnet Badewannen

Als mich Hermann (Dr. Hermann Hampel, Forst­ingenieur bei der Danzer Forestaciones) in meinem Hotel in Posadas mit seinem Toyota-Pickup abholt, ist es bereits dunkel und der Re­genvorhang so dicht, dass man kaum noch die Fahr­bahn sehen kann, auf der wir fahren. Und doch führt mich mein Gast­geber mit Beflis­senheit durch die Gegend und erzählt mir dabei vieles über diese Stadt, die auf die 1615 gegründete Jesu­iten­re­duk­tion Nuestra Señora de Itapuá zurückgeht. Diese Rallye im Tropenregen bekommt in meinen Augen fast hyperreale Züge, als sei das „blin­de“ Um­herirren der eigent­liche Zweck des Fahrens und nicht das Warten auf die für deutsche Ver­hältnisse sehr späte Öffnungszeit der Res­taurants. Ein Warten, das sich lohnt, denn ich werde zu einem her­vor­ragen­den – wie könnte es in Argentinien anders sein? – Steak eingeladen.

Sonntag, 2. November
Aufforstungen
Nach dem Frühstück werde ich von zwei Be­rufs­kollegen von Hermann vom Hotel ab­ge­holt. Die beiden arbeiten für die GMF LATINOAMERICANA, ein forst- und holz­wirt­schaft­li­ches Unter­neh­men im Nor­den Ar­gen­ti­niens und sind zum Er­fah­rungs­aus­tausch nach Posadas gekommen.
Die Danzer Forestaciones ist eine Tochterfirma der Danzer-Group, eines Un­ternehmen mit schwei­zerisch-deutschem Hintergrund, das in der Her­stel­lung von Furnier- und Schnitt­holz sowie im Han­del mit Rundholz tätig ist. In Ar­gen­tinien bewirtschaftet Danzer Forestaciones in der Provinz Po­sa­das eigene Wälder von 25.000 Hektar. Sie betreibt hier hauptsächlich Wie­der­auf­forst­ungs­projekte, bei denen ehemals für die Viehhaltung genutztes Weideland zu Wäldern aufgeforstet wird. Weil sich die Firma auf den lokalen Markt spezialisiert hat, spürt sie auch die aktuelle Finanzkrise we­ni­ger als andere Firmen, die sich stärker auf den nord­ame­ri­ka­nischen Baumarkt spezialisiert haben, der ja bekanntlich zum Erliegen gekommen ist.
Nach etwa zwanzig Minuten Fahrt treffen wir Hermann auf der Danzer-Ha­cien­da und es be­ginnt unter seiner Führung eine spannende Be­sich­ti­gung des riesigen von Danzer auf­ge­fors­te­ten Areals. Ich bemühe mich zwar, mit dem Fachjargon der Ingenieure Schritt zu halten, aber letztlich bleibt von ihrem forst­wissenschaftliches Know-how recht wenig bei mir hängen.
Der Herr der Bäume
So zum Beispiel, dass von der halben Million der von Danzer Forestaciones hier am Standort „El Porvenir“ bei Posadas pro Jahr gepflanzten Bäu­men nur etwa 30.000 einheimische Ge­wäch­se sind. Das ist darauf zurück­zu­führen, dass die einhei­mi­schen Sorten viel lang­samer wachsen und deshalb das Pflanzen von – bei­spiels­weise – Kiefern gewinn­brin­gender ist. Kleinere Firmen wie Danzer und GMF sind dennoch wesent­lich expe­ri­men­tier­freu­diger als die großen der Branche, die sich haupt­sächlich auf die rasch wachsenden Kiefern und Eukalypten beschränken.
Am Waldboden
So werden hochwertige Laubhölzer gepflanzt wie der Paraiso (Zedrach-, bzw. Paradiesbaum). Mit dieser Art wurde gut ein Viertel der bisher in Angriff ge­nommenen Flächen aufgeforstet. Den Rest teilen sich Hölzer wie Toona australis (Australische Zeder, eine sehr wertvolle Sorte), Grevillea ro­busta (Australische Seideneiche), Caña fistula (Röhren-Kassie), Araukarien sowie weitere einhei­mi­sche Laubbaumarten.
San Ignacio, UNESCO-Weltkulturerbe
Entfernungen misst man in diesem riesigen Land mit einem anderen Maß. So fährt Hermann mit mir am Nach­mittag noch „rasch“ zur ehemaligen Je­sui­ten­re­duk­tion von San Ignacio Miní, di 63 Kilometer nord- östlich von Posa­das liegt – für hiesige Verhältnisse offensichtlich ein Kat­zen­sprung.
Der Werbespruch der Provinz Misiones lautet „Tierra Colorada“ (rote Erde), und die Erde ist hier tatsächlich eines dunklen, rostigen Rots. Ihren Namen erhielt die Provinz von den Mis­sio­nen der Jesuiten, den sogenannten Je­su­iten­re­duk­tionen, von Jesuiten errichtete Sie­dlungen für die indigenen Bevölkerung Südamerikas.
Es ist hervorzuheben, dass die Jesuiten neben der christlichen Missionierung der Ureinwohner auch das Ziel hatten, sich für deren Schutz vor der Aus­beu­tung durch die weiße Oberschicht und vor Sklavenjägern zu en­ga­gie­ren. Mit den seit dem Jahre 1610 errichteten „Jesu­iten­re­duktionen der Guaraní“ – die Guaraní-Indianer waren eines der ersten Völker Südamerikas, die von den Europäern kontaktiert wurden – schufen die Jesuiten-Patres gewisseit dem Jahre 1610 errichtetsermaßen die ersten „India­ner­re­ser­va­tio­nen“ Amerikas. Der franzö­sischer Phi­losoph der Auf­klärung Montes­quieu beur­teil­te die Re­duk­tionen posi­tiv als eine „Ver­bindung der christlichen Religion mit der Idee der Mensch­lichkeit“. Diese ge­schützten Sied­lungen durften nur von den Guaranì, den Jesui­ten und von geladenen Gäste be­tre­ten werden. Die Jesuiten-Reduk­tio­nen unterstanden nicht direkt der Ko­lonial­regie­rung, son­dern waren (formell) nur der spa­nischen Krone unterworfen.
Dass die spanischen Krone die Jesuiten er­mu­tigte, solche Reduktionen (vor allem im Gebiet des heutigen Paraguay) zu errichten, war sicher nicht auf humanistische Beweggründe zurückzuführen, denn es hatte ausschließlich mit den politischen Interessen Spaniens zu tun. Portugiesische Kolo­nisten, Händler und Skla­ven­jä­ger hielten sich zu jener Zeit nicht an die zwischen Spanien und Por­tugal festgelegte Grenzziehung und das Einzugsgebiet Portugals dehnte sich somit immer weiter aus. Mit der Errichtung der Reduktionen wollte Spanien Boll­werke gegen diese heimliche Expansion schaffen.
Zur Blütezeit existierten in den Grenzgebieten der heutigen Staaten Paraguay, Argen­tinien und Brasilien 30 solche Reduktionen. In den Re­duk­tio­nen gab es weitgehende Gleich­be­rech­ti­gung. Das Zusammen­le­ben be­ruh­te auf der christlichen Ethik und der Vorstellung von Recht und Ordnung der Guaraní. Keine India­ner durften zur Zwangsarbeit gezwungen werden. Die Alten, die Witwen und die Waisen wurden von der Gemeinschaft versorgt, für die Kranken gab es in allen Reduktionen ein Hospital. Was Wunder also, dass die Reduktionen bald wirtschaftlich aufblühten und große Überschüsse an Ge­trei­de, Zucker und Baumwolle er­wirt­schafteten. Auch dadurch waren sie der spani­schen Kolo­nial­verwaltung zunehmend ein Dorn im Auge.
Im Patio des Tourismus-Büros
Von Norden her kam es immer wieder zu Über­fällen durch sogenannte Bandeirantes oder Pau­lis­tas, portugiesische Sklavenjäger aus Sao Paulo, die die Guaraní-Indianer massenweise entführten, weil diese besser ausgebildet waren und somit entsprechend teurer auf den Skla­ven­märk­ten ver­kauft werden konnten. Mehr als 60.000 Indianer wurden von den Sklavenjägern verschleppt.
1641 beschlossen die Jesuiten, die Re­duk­tionen vor den Angriffen zu schüt­zen. Mit Hilfe von ehe­maligen Militärs wie Domingo de Torres, Juan Cárdenas und Antonio Bernal bewaffneten sie ihre Schützlinge mit Musketen und Arkebusen und bildeten sie rudimentär militärisch aus. So konnte einen Angriff der Bandei­rantes bei Mboboré erfolgreich abgewehrt werden. Die Sklavenjäger hielten sich daraufhin für viele Jahre von den Jesuiten-Reduktionen fern.

FILMEMPFEHLUNG
The Mission The Mission ist ein britischer Spielfilm von Roland Joffé aus dem Jahr 1986. Auf wahren Begebenheiten beruhend, erzählt er von Vertretern eines Jesuitenordens, die im 18. Jahrhundert südamerikanische Ureinwohner missionieren und ihnen dabei helfen, sich gegen die vordringenden Portugiesen zu verteidigen. Der Film wurde mehrfach preisgekrönt, so auch mit einem Oscar.

Die Konflikte mit den Kolonialbehörden und Groß­grund­be­sitzern, nicht zuletzt auch die zu­nehmend ablehnende Haltung der abso­lu­tis­ti­schen Regierungen Por­tu­gals, Frankreichs und Spaniens gegenüber dem Jesuitenorden, führten 1767 auf Geheiß König Karls III. von Spanien zur Vertreibung der Jesuiten aus den spanischen Ge­bieten Süd­ame­rikas und somit zur Auf­lösung der Jesu­iten­re­duk­tionen. Nach der Vertreibung der Jesu­iten ver­lie­ßen auch die Guaraní die Reduktionen, die somit recht schnell verfielen und im Laufe der Jahre immer mehr vom Urwald überwachsen wurden.
Parrillada
Abends bin ich bei Hermann und seiner char­man­ten jungen Frau zu einer ganz persön­lich für mich organisierten parrillada (argentinischen Grillmahlzeit) eingeladen. Hermann und ich kennen uns seit langer Zeit, eine Tatsache der ich es verdanke, dass ich mich einmal nicht als einsamer Tourist in der Ferne son­dern wie zu Hause fühlen kann.
&bduo;Könnte ich das?“ ist die Frage, die ich mir immer stelle, wenn ich Lebens­linien beobachte, die meiner diametral entgegengesetzt sind. Hier in diesem klei­nen Bungalow in El Porvenir, umgeben von nichts als tropischen Wald, sehe ich mich, als eingefleischter Städter, mit der besonderen Form der Zufriedenheit meiner beiden Gastgeber konfrontiert, die hier ihr klei­nes Dschungel-Paradies erschaffen haben.

Montag, 3. November
Posadas
Die Schweißperlen auf meiner Stirn verdampfen im schwachen Luftstrom eines Ventilators. Es reicht gerade für die Illusion einer Abkühlung. Entlang der Promenade quälen sich sporadische Jogger: junge Männer mit an­geberisch zur Schau getragenen nackten Oberkörpern und Mädchen in eng anliegenden Stretch­höschen, die ihre perfekt gerundeten Popos hervorheben. Im Hin­ter­grund fließt der kilo­meter­brei­te, braungelbe Paranà-Fluss. Auf der gegenüber liegenden Seite fängt Paraguay an, einer der rück­stän­digsten, korruptesten und kriminalitätsgefährdetsten Staaten Südamerikas.

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Die Avenida Costanera ist, wenn man von den genannten Joggern absieht, leer wie an einem stürmischen Winterabend. Die große Hitze - der klare blau-weiße Früh­lingshimmel täuscht – macht mich müde. Mir kommt der absurde Ge­danke, Abkühlung in einem Solarium zu su­chen. Heißer als hier kann es dort auch nicht werden. Ich brauche einen Kaffee! Zurück im Zentrum suche ich vorübergehende Erfrischung in der Kathedrale. Dass an den Säulen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennen, rei­hen­weise große Ven­ti­la­toren angebracht sind, lässt ahnen, wie heiß der Sommer hier werden kann. Endlich finde ich eine einigermaßen ge­müt­liche, moderne, klimatisierte Bar mit stapelweise Torten in der Vitrine. Ich bin gerettet!
General San Martin
Viel zu sehen gibt es in dieser Stadt nicht, sieht man einmal von den vielen Denkmälern von li­ber­tadores (Befreiern) ab. Allgegenwärtig wie überall in Argentinien ist der General José de San Martín. Das Paradoxe an diesem Befreier ist, dass er als Sohn spani­scher Eltern zwar in Argentinien geboren wurde, aber in Spanien aufwuchs und dort eine Offi­ziers­lauf­bahn in der spanischen Armee durchlief. Erst als er 1812 nach Argentinien zurückkehrte, bildete dort eine Revolutionsarmee für den Unabhäng­ig­keits­kampf aus – gegen Spanien. Er Befreite zuerst (1818) Chile, dann im Jahr 1820 führte er eine Operation zur Be­frei­ung Perus aus der spa­ni­schen Herrschaft an, mit der Hilfe des anderen großen süd­amerikanischen Helden Símon Bolívar.
Dienstag, 4. November
Nachtbus nach Buenos Aires
Weil ich nicht sofort das Portemonnaie zucke, knurrt mir der Gehilfe, der meinen Koffer im Ge­päck­raum des Busses verstaut hat, missgelaunt das Wort „propina“ ins Gesicht. Aber woher soll ein begriffsstutziger Greenhorn wie ich wissen, wann hierzulande ein Trinkgeld erwartet wird?
Im Vergleich zur Folter der Economy Class eines Flugzeugs ist das entspannte Zurücklehnen in der bequemen und großzügig bemessenen „butaca“ eines argentinischen Reisebusses nahezu ein Pa­ra­dies. Der bequeme Schlafsitz ("semicama"), bei dem die Rückenlehne sehr weit zurückgestellt werden kann, bietet sogar einem 1,90 Meter großen Menschen wie mir genügend Beinfreiheit.
Entlang der Ruta Nacional 14 ist es etwas ein­tönig: Flache Brachlandschaft wechselt sich mit aus­ge­dehnten Mate-Plantagen, Maisfeldern und stre­cken­weise mit kleinen Kie­fern­wäldern ab. Ein Ein­druck von Monotonie, der von der akustischen Dauer­be­rieselung durch dritt­klas­sige Popmusik noch verstärkt wird. Fas­zi­nie­rend ist allein die rotbraune Erde der Bankette und der kahlen Stellen der Landschaft.
Nach etwa zwei Stunden Fahrt durch diese weitläufige, landschaftlich fast eigen­schaftslose Land­schaft erreichen wir die Municipalidad Apóstoles, ein schmuckes Städtchen, in der das allge­gen­wär­tige Rot­braun von Straßen­rand, offenem Boden und staubigen Nischen mit dem Grün der Pal­men, der Platanen und der rest­lichen exoti­schen Flora einen bizarren Kontrast bildet. Eine Zwei­far­ben­welt in Rot und Grün, die nur von den Pastellfarben mancher Häuser auf­gemuntert wird. Dazu kleine Gärten, Menschen, die vor ihrem Haus sitzen und plau­dern, kaum Verkehr. Junge Mädchen fla­nieren fröhlich und schnat­ternd in Grüppchen entlang der Haupt­straße. Was für mich das Ende der Welt ist, ist für sie deren absolute Mittelpunkt. Eine Pro­vinz­idylle in der milden Abendluft, sau­ber, voller Leben aber wohl geordnet, so dass man fast denken könnte, ein Schweizer habe hier die Hand im Spiel gehabt.
22 Uhr 15
Als der Bus spätabends irgendwo in der Provinz an einem „Terminal“ anhält und ich das Knurren meines Magens nicht mehr überhören kann, frage ich den Fahrer, ob wir die Zeit hätten, ein Sand­wich zu kaufen. „No necesita“ (das brauchen Sie nicht), antwortet er, „nosotros le damos la cena“ (sie bekommen das Essen von uns). Diese Überland­bus­fahr­ten weisen immer mehr Ähn­lich­keiten mit Flügen auf. Man steigt über einer „porta“ (Neudeutsch: „Gate") ein, es gibt freie Geträn­ke, und an der Decke ange­brach­te Bild­schirme berie­seln die Pas­sa­giere mit gewünsch­tem und unge­wünsch­tem Zeit­vertreib. Zu den Essens­zeiten kommt ein „Stewart“ (d.h. einer der beiden Fahrer) durch die Gänge und ver­teilt Tabletts mit dem Essen. Aber auch im Bus, wie immer in Argentinien, wird zu später Zeit gegessen. Ich hätte es wissen sollen!