Dienstag, 21. Oktober
Buenos Aires, Parque Lezama
Mein Aufenthalt in Buenos Aires beginnt mit Re­gen. Alles scheint grau zu sein, sowohl der trost­lo­se Tag, der fast Züge eines mit­tel­eu­ro­päischen Herbst­tages aufweist, als auch die Peripherie dieser rie­sengroßen Stadt, die durch das Fenster des remise (Bestelltaxi) an mir vorbeifliegt und mich mit ihrem Schmutz und ihrem städtebau­lichen Wil­dwuchs überfällt. Dieser erste ab­schre­ckende Ein­druck setzt sich bald mit den War­nun­gen der Pen­sionsinhaberin Anna und ihres Soh­nes fort: Alles, was mich als Tourist er­ken­nen lie­ße, auch den Stadt­plan in der Hand, solle ich ver­bergen, keines­falls dürfe ich den teue­ren Foto­ap­pa­rat offen tragen und ein­same Gas­sen auf­su­chen. Und immer, beson­ders abends, müsse ich zu meiner eigenen Sicherheit ein Taxi be­nut­zen. Was für eine er­mu­tigende Perspektive!
Statue von Don Pedro de Mendoza
Kaum ist aber eine Stunde vergangen, schon erleben meine Gedanken durch die einnehmende Atmosphäre des Lezama-Parks eine Wendung zum Positiven. Der Grauschleier ist wie durch Zau­berkraft abgefallen.Ich sehe und staune. Auf einer Parkbank macht ein junges Mädchen Liege­stützen, zwei Bänke wei­ter sitzt ein Paar fest­umschlungen, in einem leidenschaftlichen, fast schon theatralischen Kuss verwickelt.
Paseador de perros
Anderswo führen die für Buenos Aires typischen „paseadores“ (Hunde­aus­füh­rer) Trauben von Hunden an einem Bündel von Leinen, oder laufen ver­wil­dert aussehende Kinder umher. Und ist die ältere Dame mit den wu­sche­li­gen roten Haaren, die in einem abge­tra­ge­nen, von einem lang­fran­si­gen blumen­ge­mus­terten Schal kaum ver­deck­ten Sommer­kleid­chen würdevoll durch den Park zieht, nicht entzückend?
Orthodoxe Kirche am Lezama-Park
Wenn ich versuche, den wahren Auslöser meines melancholisch-glücklichen Gefühls zu finden, dann weiß ich sehr schnell, dass es in der Haupt­sache die laue, noch von Feuchtigkeit getränkte Luft ist. Denn sie lässt mich an Treib­häuser voller Blattwerk und Palmen denken, an Indien und an nie erlebte sub­tro­pi­sche Träu­me. Dieses Am­bien­te wird vom Kreischen, Zirpen und Zwit­schern mir unbekannter Vögel und vom sporadischen, laut­starken Aufflattern der Tauben noch ver­stärkt.
Museo Historico Nacional
Es sind auch die Platanen, ein paar ker­zen­ge­raden Dattelpalmen, die Ja­ca­randas mit ihren blass­lila­farbenen Blüten, die Araukarien und der Ombu, der Baum, der in Wirklichkeit ein Busch ist, die diesem ziemlich unauffälligen Park seine Beson­derheit geben. Der Himmel ist, nach dem Regen, wieder fast völlig klar, von einem zarten Hellblau, das in Richtung Sonne sanft in ein gol­de­nes Leuch­ten übergeht. Gegen Nordosten gibt der leicht erhöht stehende Park den Blick frei auf eine Riege von Hochhäusern, die wahllos in den Himmel ragen, aber im milden Abendlicht ihre Häss­lichkeit vorübergehend abgelegt haben.
Klein-Paris
Am westlichen und südlichen Parkrand beein­dru­cken mich eine Kirche mit grell­blauen Zwie­bel­tür­men, die Iglesia catolica apostolica-ortodoxa rusa und das Nebeneinander von mo­der­nen Hoch­häu­sern und architektonischen Erin­ne­run­gen an die koloniale Vergangenheit. Manches Ge­bäu­de weckt mit seinen schmie­de­ei­sernen Balkonen und den Dach­zie­geln aus grau­em Schie­fer sogar Asso­ziatio­nen an Frank­reich. In der Tat wurden im 19. Jahr­hun­dert in Bue­nos Ai­res präch­ti­ge Stra­ßen und Vil­len nach fran­zö­si­schem Vor­bild gebaut. Diesen ver­dankt die Stadt heute ihren Ruf als „Paris Südamerikas“.
Mittwoch, 22. Oktober
Tango
Die hübsche Dänin mit dem Pippi-Langstrumpf-Gesicht und dem ansteckenden Lächeln führt mich zu einem Tisch in der ersten Reihe. Von hier aus kann ich aus größter Nähe die traditionelle In-Szene-Setzung des „getanzten Dialogs zwi­schen Mann und Frau", also des Tangos er­le­ben, der hier auf der Plaza Dorrego in San Telmo  zur Erbauung von Tou­ris­ten und ein­hei­mi­schen Nos­tal­gikern aufgeführt wird. Zwar fehlt es dem ein­zigen Tanzpaar, das an die­sem ru­hi­gen Wo­chen­tags­mor­gen hier auftritt, an Leiden­schaft, auch passt der Mann kaum zum Bild, das man mit einem stolzen Tangotänzer assoziiert, aber was soll's: Das Wetter ist früh­lings­haft, die cerveza (das Bier) ver­lang­samt den Ge­dan­ken­fluss und ein lockeres Gefühl von Zu­frie­den­heit macht sich bei mir breit.
Tangotänzer in San Telmo
Der Mann sieht wie ein Buchhalter aus und lässt eher an ei­nen verklemmten, in die Jahre ge­kom­menen Junggesellen denken. Von stolzem, gar arrogantem Macho-Gehabe ist weder in sei­nen Bewe­gungen noch in seinen Blicken etwas zu spüren. Auch seiner Part­nerin geht das Ras­si­ge und Stolze ab.

BUCHEMPFEHLUNG
Tango Buenos Aires (Deutsch): Der Bildband „TANGO - BUENOS AIRES“ por­trai­tiert die facet­ten­reiche, fas­zi­nie­rende Welt des Tangos an ihrem Ur­sprungs­ort, in der groß­ar­tigen Kulis­se der puls­ieren­den argen­ti­nischen Metro­pole Buenos Aires..

Ihr blasses Vorstadtmäd­chen-Gesicht mit in­dia­nischem Einschlag lässt sie eher als biedere Haus­frau einordnen. Ihre Drehungen, die Be­we­gun­gen ihrer Füße, die Beinhaken, mit de­nen sie das Bein ihres Partners umschlingt, sie wirken allesamt künstlich und ein wenig hölzern. Wären da nicht die bis zur Hüfte reichenden Schlit­ze in ihrem Kleid, würde mein Interesse schnell erlahmen.
Ganz anders das Paar, das am späteren Nach­mit­tag an der selben Stelle auf­tritt. Sie tan­zen mit Elan und mit unverkennbarer Selbst­si­cher­heit. Ihr Ge­hen, ihre Stopps, ihre Dre­hun­gen, die ge­konn­ten Pausen, die sie ein­fü­gen, die Lufthaken der Frau und all die ge­tanz­ten Verzie­run­gen, die sie vorführen, sie haben eine Leichtigkeit und eine Selbst­ver­ständ­lichkeit, die bestechen. Ihr Tanz ist gekenn­zeich­net von Anmut und Poesie, Stolz und Eleganz.
Tangotänzer in San Telmo
Nicht einmal die nack­ten Beinen der Frau schaffen es nicht, nicht, mich vom Ge­samt­kunst­werk
des Tan­zes ab­zulen­ken, ob­wohl der stän­di­ge, sen­si­b­ler Kör­per­kon­takt des Paares eine sub­tile At­mos­phäre der Ero­tik aus­strahlt. Der Tan­go, sagt man in Bue­nos Aires, sei das Vor­spiel zur Lie­be. Zy­ni­scher for­mu­lier­te es Geor­ge Bern­hard Shaw: „Der Tan­go ist der ver­ti­ka­le Aus­druck ei­nes ho­ri­zon­ta­len Ver­langens". Während die Beiden tanzen, werden sie von ei­nem kleinen Mädchen an­dau­ernd umtanzt. Sie tut es spielerisch, mit Be­geis­te­rung und strahlt dabei gro­ße Glück­se­lig­keit aus. Einmal nimmt der junge Tän­zer sie an den Händen und führt sie. Sie ist sofort im siebentem Tangohimmel.
Bar Britanico, abends
Ein markantes Mestizengesicht, wie es im Buch steht: braungelbe Haut, ein­gefallene Wangen, her­vorragende Backenknochen, stechende Pi­cas­so­-Augen, kurze, struppige, blondierte Haare und ein Goldkettchen in jedem Ohr, das vom oberem Rand bis zum Ohrläppchen hängt, alles in allem eine Visage, die mich an den letzten Mohikaner oder an zwielichtige Gestalten wie Long John Silver (aus „Die Schatzinsel") denken lässt. Nicht dass ich mich über ruppige Manieren zu beklagen hätte, ganz im Gegenteil: Der Kellner des Bar Britanico wirkt sanft wie ein Lamm und ist zuvorkommend höflich. Ich bin leider nicht frech genug, um ihn zu fragen, ob er sich portraitieren ließe. Dass die milanesa (paniertes Schnitzel) ziemlich trocken ist, nach ranzigem Öl riecht und so aussieht, als sei sie bereits zum zweiten Mal aufgewärmt worden, dafür kann er sicher nichts.
Junges Paar im Bar Britanico
Donnerstag, 23. Oktober
Bar Hipopotamo, morgens
Wenn Lärm Leben ist, dann ist Buenos Aires eine besonders lebendige Stadt. Ununterbrochen rum­peln, brummen und husten Privatautos, Busse und die zahlreichen Taxis (vierzigtausend sollen es sein) in voller Lautstärke, als sie auf den unebenen, aufgerissenen, oft mit Kopfpflaster verse­he­nen Straßen vorbeifahren. Das fällt mir besonders dann auf, wenn ich in einem Cafe ein paar „ruhige“ Minuten verbringen will. Diese erholsamen Aufenthalte bei Kaffee und me­dia­lunas (Mini­croissants) oder Bier und em­pa­na­das (gefüllte gebackene Teigtaschen) werden immer wieder zu meinem Rettungs­anker und meiner philosophischen Zuflucht. Aus der Kaffeehaus-Perspektive kann man so leicht verdrängen, dass man auf Reisen so oft nur Beobachter und kein wirklicher Teilnehmer jenes Lebens ist, das sich irgendwie „da draußen“ abspielt, mehr Theater als Realität, in dem fernen Land, wohin man wie ein Schiffsbrüchiger vom Meer des Zufalls hingespült wurde.
Das Zufällige am Leben fällt mir besonders dann auf, wenn ich unterwegs bin, wenn ich die stumpf machende Routine des Alltags hinter mir gelassen habe und auf einen neugierigen Blick nahezu angewiesen bin. Ist es denn nicht ausschließlich Zufall, dass es der kleine, mit zwei Ten­nis­bällen jonglierende junge Indio ist, der auf eine „mone­dita“ (Münze) angewiesen ist und nicht eines der Kinder meiner europäischen Freunde? Dass mir hier in der stolzen Stadt der „guten Lüfte“ so viele ältere Herren mit edlen Ge­sichts­zü­gen und verschlissenen Anzügen auf­fallen? Dass so oft eine stille, erbärmliche Gestalt ein Lokal betritt, von Tisch zu Tisch geht, jeweils etwas dort ablegt (ein Feuerzeug, einen Kugelschreiber, ein Päck­chen Papiertaschentücher oder wer weiß noch was) und dann beim zweiten Rundgang, weil kaum jemand etwas davon kaufen will, wieder alles ein­sam­melt? Dass sich jemand mit dem Spazierführen fremder Hunde ein paar Pesos verdienen muss und dass Argentinier eu­ro­päi­scher Abstammung sich seltener, Indios aber sehr oft als Bettler durchs Leben kämpfen muss?
In der Calle Florida kann man keine zwanzig Meter gehen, ohne von jemandem eine Vi­si­ten­karte oder ein Prospekt in die Hand gedrückt zu bekommen: Lederwaren gefällig? Die beste parilla (Grillrestaurant) der Stadt? Die preis­wer­testen Jeans? Der beste Striptease in Bue­nos Aires? Unversehens – Zufall? – kann man in eine vermeintliche Tango-Bar gezerrt werden und von einem halben Dutzend dreikäsehohen Prostituierten mit tätowierten Brüsten auf die Leistungen des Lo­kals hingewiesen werden. Kann man von diesen Pseudojobs leben? Oder vom Sammeln von Müll wie die Cartoneros, die all­abendlich die am Straßenrand gestapelten Müll­säcke öffnen und nach Ver­wert­barem su­chen? Zwanzig- bis dreißigtausend soll es von ihnen geben. Pro Kilo eingesammeltes Papier be­kom­men sie gerade ein paar Pesos, was ihnen bestenfalls 800 Pesos (etwa 150 Euro) pro Monat bringt.
Ist das Feuer­spucken oder Tangotanzen auf der Stra­ße ein ein­träglicher Be­ruf? Ich frage mich, ob die Sympathie, die ich für diese Arm­seligen spüre, vielleicht darauf beruht, dass ich mich in ihnen gespiegelt sehe, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene: Weil die Aktien wieder einmal in freiem Fall sind, die Heiz­kosten ge­stie­gen, er­war­tete Erfolge ausgeblieben und weil mir Lo­bes- und Lie­bes­bekundungen nicht gerade oft geboten werden und das Leben schneller vor­bei­rast als gedacht.
Ich werde genügsam. Einer Gruppe Ka­ra­te­sport­ler aus Brasilien auf der Plaza San Martin im Spät­nachmittagslicht zuschauen, ein Lüftchen genießen, das die Wolken weggefegt hat, und schon habe ich wieder Kraft bis zum nächsten Tag. Dann kann ich vergessen, dass ich zwei Stunden im Handy­laden Schlan­ge stehen musste, ohne am Ende eine funktionierende SIM-Karte er­gat­tert zu haben, dass ich mir beim stun­den­langen Marsch durch das microcentro Füße und Rücken wundgelaufen habe, und dass der Tag so schnell vorbei war, ohne dass ich wirklich etwas Neues von dieser Stadt erlebt hätte.