Balkanreise  - Reisenotizen von Bernd Zillich   
   
 
   
   
   © | Reisebericht | Home
   
         
       
 
 
Die Brücke über die Drina
Iaşi und der Neamţ
Finale in den Karpaten
   
 
Rumänien
 
RUMÄNIEN
  Auf das Bild klicken,
um Buch zu bestellen
 
 
 
Iaşi (Rumänien)
Die Stunden, die ich in Iaşi verbringe, werden mir ohne jeden Zweifel als eine von Stress und schlechter Laune charakterisierte Zeitspanne in Erinnerung bleiben. Ehrlicherweise sollte ich von kohlrabenschwarzen Gedanken sprechen, die sich bis zur Rage steigern, als ich wieder mit der rüpelhaften Fahrweise der rumänischen Autofahrer konfrontiert werde. Könnte ich mich in dieser Situation selbst sehen, so zeigte sich mir ein Bild, das direkt vom Zeichenstift von Carl Barks, dem berühmten Zeichner der Disney-Comics stammen könnte. Wie anschaulich konnte doch dieser Künstler die Wutausbrüche Donald Ducks darstellen! Donalds Schnabel bekommt plötzlich Zähne, aus seinen Augen schießen kleine Blitze und um seinen dunkelrot angelaufenen Kopf kreisen kleine schwarze Teufelchen mit Dreizack. Gut, dass mein Schutzengel dafür gesorgt hat, dass sich kein Maschinengewehr in Greifweite befindet! Sonst säße ich in Null Komma Nichts in einem feuch­ten, dunklen rumänischen Gefängnis. Wo ich doch nicht einmal weiß, wie man auf Rumänisch "ich möchte mit meinem Rechtsanwalt telefonieren" sagt.
Der Grund, weshalb ich überhaupt Iaşi aufgesucht habe, ist wieder einmal die Spurensuche. Während des Zweiten Weltkrieges folgte nämlich mein Vater der Wehrmacht bei deren Russ­land­feldzug bis hierher und weiter nach Kischinau. Als ich an der moldawisch-rumänischen Grenze von einem Zöllner - wegen der voluminösen Kamera, die er sehen konnte - gefragt wurde, ob ich Fotoreporter sei, war es Sache eines Augenblicks für mich, an meinen Vater, der damals für die "Wiener Illustrierte" arbeitete, zu denken und mich mit einer "furtiva lacrima" in den Augen als Berichterstatter in seinen Fußstapfen zu fühlen.
Auf einem seiner Fotos ist - im perspektivischen Fluchtpunkt einer Allee - der protzige Kulturpalast von Iaşi zu sehen. Vaters Bildunterschrift dazu lautete: "In Iasi zwänge ich mich mit meinem Wagen in eine Militärkolonne und komme so ungehindert nach Bessarabien (die heutige Republik Moldau). Es ist verblüffend einfach, den deutschen Bürokratismus zu überlisten, Bluff allein genügt schon."
Mein Vater muss wohl aus einem anderen Holz geschnitzt gewesen sein als ich, denn ich komme nicht einmal ungehindert auf den Mittelstreifen, um ein Bild aus der gleichen Perspektive, aus der sein Fotos entstand, aufzunehmen. Zuerst probiere ich es vom Auto aus, werde aber kurzerhand weggehupt, dann zu Fuß, indem ich versuche, die Rotphase der Ampel auszunutzen. Aber heut­zutage wird ein Mann, der mitten auf der Straße mit einem Fotoapparat hantiert, nicht mehr mit großen, naiven, bewundernden Augen angeschaut, nein, er ist Freiwild für tötungslustige Auto­fahrer.
In Iaşi mit dem Auto unterwegs zu sein lässt mich an jene Computerspiele denken, in denen eine Spielfigur mühsam danach trachtet, durch einen Hagel von Hindernissen (Geschossen, Monster­chen, muskelbepackten Kämpfern, angriffslustigen Bienen etc.) an sein Ziel zu gelangen. Was das Vorankommen zusätzlich erschwert, ist, dass alle paar Meter ein kaum noch wahr­nehm­barer Ze­bra­streifen auftaucht, auf dem Scharen von Fußgängern ununterbrochen und tückisch die Fahrbahn überqueren. Und sind es nicht die lebensmüden Fußgänger, die mich arglosen Orts­frem­den er­schreck­en, so sind es die Autofahrer mit ihrem Killerinstinkt. Wehe, ich fahre etwas langsamer, weil ich – beispielsweise – nach einem Hotel suche. Das Gehupe ist sofort laut, aggressiv und an­hal­tend. Kein Wunder, dass ich es bei diesem Spiel niemals bis zum nächsten "Level" schaffe.
Schulen und Universitäten, Monumente, wunderbar angelegte Grünanlagen - allein der botanische Garten ist mit über 100 Hektar der größte Rumäniens -, Klöster, die wahre Juwele moldauischer Architektur sind, der gewaltige neogotische Kulturpalast, seit 1910 das Wahrzeichen der Stadt, und vor allem Kirchen: Ganz gleich in welcher Richtung man in dieser Stadt schaut, sieht man einen Kirchturm. Man sieht es, in anderen Worten, der Stadt an, dass sie seit Jahrhunderten eine Art kulturelle Hauptstadt ist. Die Bewohner Iaşis vergleichen ihre Stadt gerne mit Rom, weil sie ebenfalls auf sieben Hügeln erbaut wurde.
Man könnte also fast behaupten, Iaşi  sei eine wunderschöne Stadt. Das Abstraktionsvermögen, allerdings, dass ein gewöhnlicher Sterblicher aufbringen muss, um in Iaşi das Schöne gedanklich vom Hässlichen trennen zu können, ist riesig. Mitten im Zentrum, unmittelbar am Kulturpalast, verläuft eine Schneise der Verwüstung und Modernisierung. Ein rücksichtsloses Architektur-Gemetzel hat hier in der Zeit nach der Ceausescu-Ära stattgefunden. Als in der Antike mächtige Heere eine Feindesstadt eroberten, machten sie diese – das ist bekannt – gelegentlich dem Boden gleich. Nero soll auch mit Rom nicht zimperlich gewesen sein, das lernt jedes Kind in der Schule. Iaşis Schicksal war – jedenfalls stellenweise – nicht minder grausam.
Der Fotograf in mir, der dieses absurde, hässliche, aber im Augenblick von einem herrlichen gol­denen Nachmittagslicht beleuchtete Chaos gerne auf Film (bzw. auf Chip) speichern möchte, lässt sich sogar den schrecklichen Verkehr aufbürden, nur um eine Unterkunft zu suchen. So fahre und fahre ich und finde – nichts, außer einem Luxushotel, dessen Kosten mir – mit Verlaub – der Aufenthalt nicht wert ist. So siegt bei mir der Fluchtreflex und ich finde mich bald wieder auf der Straße. Gerade noch kann ich vermeiden, eine wild geworden Kuh, die auf der Fahrbahn hin und herläuft, zu überfahren, dann kann ich mich endlich wieder genüsslich dem Ärger über die Minifahrspur und die netten Geländewagenfahrer widmen.
Nach der Abzweigung bei Târgu Frumos in Richtung Paşcani ist der Stress aber vorbei. Die Anzahl der Pferdefuhrwerke auf der Straße und der positiven Gedanken in meinem Kopf nimmt – wenn auch zögernd - wieder zu.
Der Kontrast
Im Restaurant der Pensiunea Aristocratis in Târgu Neamţ, im nordöstlichen Rumänien, sitze ich als einziger Gast in einem nüchtern-modernen Ambiente, in dem ein Dutzend perfekt gedeckter, aber freier Tische die Leere der Vorsaison bekundet. Im Fernsehen läuft das Fußballspiel Schweden-Griechenland, was ungefähr das Letzte ist, was mich in diesem Moment interessiert. Diese Pension, in die ich nur zum Essen kommen, ist ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir vorgestellt habe: ein adrettes Touristenambiente in einem nichts sagenden Ort. Mit Wehmut denke ich an Moţca, das Zigeunerdorf, keine dreißig Kilometer von hier entfernt, wo es mir nicht gelungen ist, eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden! Was für eine Faszination ging von diesem Ort aus! Was für barocke Schlösschen, verzierte Häuser und verwilderte Gärten fesselten meine Augen! Was für Gestalten, diese Menschen, die am Straßenrand hockten, Kühe nach Hause trieben, in meine Richtung starrten und mich angrinsten! Wie wunderbar schmutzig waren die herum­lauf­en­den Kinder! Eine Welt für sich, die noch keinen Anschluss an die amerikanisierte Wirklichkeit des sich rasant verändernden Rumänien gefunden hat! Nicht dass ich in diesen Ort ein "heile Welt" hinein­interpretiere! Keinesfalls! Aber was für ein Horrorgedanke ist der an das Verschwinden der Vielfalt in einen überall gleichen amerikanisierten Brei.
Mittwoch, 11. Juni
Terrasse der Pensiunea Aristocratis
Mic dejun (Frühstück) mit Blick auf eine Wiese, auf der zwei Bauern mit gemessenen Bewegungen das Heu von den Heugarben zum Trocknen auf den Boden streuen. Mir unbekannte Vögel flattern umher. Keine einzige Wolke ist am Himmel. Ohne jeg­li­chen Zeit­druck gebe ich mich diesem ent­spann­ten Nichtstun hin. Ich genieße es, brauche es sogar, als Mittel gegen die ersten Anzeichen von Reise­mü­dig­keit, die sich bei mir eingeschlichen haben.
Ich gebe es ja zu, dass mein Rumänisch nur aus ganzen fünf, sechs Redewendungen besteht, aber wenn ich, von der Speisekarte ablesend, ein Käse-Omelette, Brot, Butter und Marmelade bestelle, könnte man doch meinen, ich wünschte die Marmelade nicht auf dem Omelette. Gut, dass ich auf die Verwunderung der "domnişoară" rechtzeitig reagiere und "separat" sage. Das dürfte in den meis­ten Sprachen verständlich sein. Tatsächlich verwandelt sich daraufhin der zweifelnde Ge­sichts­aus­druck des Mädchens in ein zaghaftes Lächeln.
Regen
Noch vor kurzem fuhr ich voller Schwung und mit dem Kloster Neamţ (wörtlich "deutsch") als Ziel in Richtung Westen und war fasziniert von den traditionell bemalten Holzhäusern und kleinen Ge­höften entlang der Straße, viele von denen mit rustikalen überdachten Eingangstoren, Terrassen oder Balkonen versehen waren, und fühlte mich beflügelt vom fantastischen Licht, dass die Sonne über die Landschaft und ihre Kulisse aus dunkelgrauen Gewitterwolkenmauern ergoss.
Jetzt, eine knappe halbe Stunde später, schüttet es wie aus Kübeln von einem gleichmäßig grauen Himmel herab. Das künstliche, "moderne" Ambiente der Pension Perla Neamţului, in der ich Zu­flucht gefunden habe, ist nicht gerade dafür geeignet, mich aufzuheitern. Einzig die Mititei auf meinem Teller sind original rumänisch. Bereits das Bier ist eine "Errungenschaft" der Globa­li­sie­rung: Auf der Getränkekarte sind fast nur die Multinationalen (Beck, Tuborg, Heineken, Stella Artois etc.) vertreten. Und während ich esse, wackeln beim Klang amerikanischer Popmusik die Gesäße und die Dekolletes von austauschbaren Plastikfrauen im Fernsehen für irgendeine Wer­bung. Will­kom­men, Rumänien, beim "american way of junk".
Klöster
Als es nach einer Stunde immer noch regnet, verzichte ich missmutig auf den Besuch des Klosters, setze aber meine Erkundungsfahrt fort, um mir ein Bild von der Gegend und den weiteren Klöstern zu machen. Zu Füßen der Stânişoara -Berge Im Tal des Secu-Flusses liegt die gleichnamige Abtei. Das aus einer einfachen Einsiedelei 1602 hervorgegangene Kloster Secu ist von dicken Mauern umgeben, die seinen früheren Charakter als Zufluchtstätte hervorheben. Der Regen lässt den Gebäudekomplex düster und abweisend erscheinen. Als ich in die Kapelle eintrete, brauche eine ganze Weile, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Im vorderen Bereich sitzt ein schweig­samer, ins Lesen vertiefter junger Mönch. Als ich ihn höflich frage, ob das Fotografieren erlaubt ist, bejaht er mit einem freundlichen, stillen und einnehmenden Lächeln. Dann stehe ich allein vor dem prachtvollen Altar. Stille umgibt mich. Kaum ein Laut dringt von draußen zu mir herein. Nur das leise Klingeln eines Glöckchens. Wieder hat sich das Blatt gewendet und Missmut sich zu einer stillen Begeisterung gewandelt. Vor allem beeindruckt mich die stille Freundlichkeit der Mönche und die ruhige Art, wie sie, trotz vereinzelter Besucher, sich von ihrer jeweiligen Tätigkeit nicht ab­brin­gen lassen.
Der Bach entlang der Straße zum vier Kilometer entfernten, 1655 gegründeten Kloster Sihastria ist zu einem braungelben reißenden Fluss geworden. Die Landschaft hat hier bereits Mittel­ge­birgs­cha­rak­ter angenommen, sie ist wild und einsam, wegen des anhaltenden Regens ist sie auch noch in ein düsteres, dunkles Grün getaucht. Sie ist wie geschaffen für Zurückgezogenheit und Weltflucht. Nicht weit von hier befindet sich die Höhle, in der die Heilige Teodora, die "fromme", in völliger Entsagung lebte. In Sihastria lebte auch Vater Cleopa (1912-1998), der durch seine Weisheit ein geistiger Führer der heutigen rumänischen Orthodoxen wurde. Von den Kommunisten verfolgt fand er sechs Jahre lang Zuflucht in einer Höhle mitten im Wald, die allein dem Holzfäller bekannt war, der ihn mit Lebensmittel versorgte.   
Als ich ins Kloster eintrete, ergreift, unmittelbar und unerwartet, eine stille Erfurcht von mir Besitz. Ich spüre – es ist ein Bild von äußerster Klarheit in meinem Kopf - die lebendige, unfassbare, doch umwerfende Präsenz von Generationen von Mönchen, deren Abkehr von der Welt mir zwar unbe­greif­lich ist, deren gelassene innere Kraft mich aber außerordentlich beeindruckt.
Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! Jene, die nach Selbstbesinnung und innerer Ruhe sucht und alles Materielle und Unnutze, wenn auch nur für ein paar Stunden, abwerfen möchte, und jene des Fotografen, der einmalig suggestive Bilder vor seinen Augen sieht.
Als ich mich bei einem kleinen, bebrillten Mönch, der wie ein Zwillingsbruder von Woody Allen aus­sieht, - auf Englisch - erkundige, ob man hier übernachten könne, fragt er mich, ob ich bereits zu Abend gegessen hätte. Als ich verneine, lädt er mich dazu ein.
Die halbe Stunde, die ich - als Gast, nicht als zahlender Tourist - im großen Refektorium mit den Ordensbrüdern verbringe, ist gefühlsmäßig ein Höhepunkt meiner Reise. Das Abendmahl, wie auch alle anderen Abläufe im Kloster, ist strikt reglementiert und gleicht einer Zeremonie. Vor der Mahl­zeit wird von einem der Mönche litaneiartig ein Gebet rezitiert. Währenddessen sitzen die anderen Brüder andächtig am Tisch, einzelne mit gefalteten Händen, andere nur still und in Gedanken ver­sunken. Danach geht der Ordensbruder, der mit dem Küchendienst beauftragt ist, mit einer großen Schüssel von Tisch zu Tisch und teilt dicke Gemüse-Kartoffelsuppe aus. Dazu ein paar Scheiben Weißbrot. Etwas später werden, quasi als Salat, frische Frühlingszwiebel gereicht und abschließend gibt es noch eine kleine Schüssel gesüßten Joghurts. Die Mahlzeit wird von den Mönchen schwei­gend eingenommen.
Stromausfall
Als ich zurück in meiner Pension bin und auf den Lichtschalter drücke, bleibt es dunkel. Die In­ha­berin und ihre Tochter reagieren auf meine Anfrage völlig gleichgültig. Das passiere öfters, wenn es regnet, bekomme ich zu hören. Mir werden Kerze und Zündhölzer gereicht. Es ist 21 Uhr. Zu früh zum Schlafen. Ich kann aber weder lesen noch schreiben, denn die Batterie meines Note­books ist in einem miserablen Zustand. Ich liege auf dem Bett, draußen ist immer noch Licht, ein goldener Streifen am Horizont, der allmählich schwächer wird. Da fällt mir ein, dass ich einen batteriegetriebenen MP3-Player habe. Endlich ein Anlass, meine darauf gespeicherten Rumä­nisch­lektionen in Angriff zu nehmen. "Bună ziua, domnişoară, vorbiţi engleză?" (Guten Tag Fräulein, sprechen Sie Englisch?) – "Nu domnule, nu înţeleg engleză!" (Nein mein Herr, ich verstehe es nicht).
Mein Fleiß wird durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Es ist der Hausherr, der mir mitteilt, dass der Strom wieder vorhanden ist. Der Regen durch die Transformatorstation habe die Unterbrechung verursacht. Noapte buna!
 
 
 
 
     
         
In Iassi In Iassi In Iassi  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt  Im Neamt