Reisebericht von Bernd Zillich    
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Reiseführer Mazedonien: Unterwegs auf dem südlichen Balkan (Trescher-Reihe Reisen)
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Entdeckung Balkan
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Der Traum vom deutschen Orient: Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918
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Sonntag, 31. Mai
Ernüchterung
Was für ein Wetter! Voller Tatendrang packe ich meine vier Sachen und fahre los. Von dem Touristentrubel etwas gesättigt peile ich den Nationalpark Pelister an. Die Land­schaft, durch die ich fahre, hat sich gewandelt. Dicht bewaldete Hügel mit Bu­chen, Kas­ta­nien, Eichen und Linden wechseln sich ab mit weiten, fruchtbaren Tälern, die Züge ei­ner idealen Landschaft aufweisen mit Obstbäumen und bebauten Feldern: dies alles in einem wunderbaren zarten Frühlingsgrün.
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Nach meiner Erfahrung mit dem Nationalpark in Bosnien (nur ein einziges, völlig aus­ge­buchtes Hotel, und das an einer hässlichen Ecke an der Hauptstraße) sind meine Erwar­tun­gen nicht über­zogen. In der Tat kommt es auch nicht anders: Das einzige Hotel ist nicht nur der übliche pseudomoderne Klotz, es ist auch vollbesetzt – schließlich ist es Sonntag – und das Restaurant ist äußerst ungemütlich. Ein kleiner Spaziergang führt mich in den Wald, auf einen steilen Pfad, von dem ich nach kurzer Zeit aber wieder ablasse: In einem dunklen Wald bergauf zu hatschen, das kann ich auch zu Hause!
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Also nichts wie weiter! Weil ich aber nicht so leicht aufgebe – und hungrig bin – zweige ich in ein Nebental ab, das sehr einladend wirkt. Eine weite, einsame Landschaft inmitten der Stille! Am Ende des Tals ein Hoff­nungs­schim­mer: ein Schild "Ресторан" (Res­tau­rant)! Ich se­he mich schon am Ziel. Es liegt mitten in einer Bungalowanlage mit kleinen Holz­ba­ra­cken, die zumindest Abgeschiedenheit zu bieten scheint. Welcher Trugschluss! Ich brau­che nur eine Ecke weiter zu gehen, um in ein Lager mit 24 (vierundzwanzig) Wohn­wä­gen zu ge­ra­ten. Und was ich als besonders bedrohlich empfinde: mit nie­der­län­dischen Kenn­zei­chen! Von einem gedeckten Klapptisch grüßen mich freundlich zwei äl­tere Da­men, die ihre von Zuhause mitgebrachten Lebensmittel verzehren.
Nun habe ich selbstverständlich nichts gegen dieses tolerante, freundliche Volk aus un­serem regenreichen Nachbarland. Ein einzelner Wohnmobilreisender so weit weg von allem hät­te mir sogar einen Hauch von Bewunderung entlockt, aber aufgepasst: Es han­delt sich in diesem Fall um eine o r g a n i s i e r t e Wohnwagen-Gruppenreise!
Das ist zu viel für mich! So eine Ballung spießiger Kleinbürgerlichkeit ist nur schwer zu ertragen. Als würde es zur Situation passen, ist das gesuchte Restaurant ein riesiger un­persönlicher dunkler Raum mit mindesten fünfzig Tischen und dem Charme einer Bahn­hof­gaststätte. So schnell bin ich noch nie von einem Ort geflohen.
Schließlich lande ich im kleinen, unscheinbaren aber sympathischen Dorf Нижеполе (Nižepole). Von meinem Tisch im Freien ist der Blick frei auf einen Basketballplatz, wo ein paar junge Männer gerade spielen. In der Ferne die diesige Landschaft der Baba-Berge. Zu essen gibt es zwar nur ein dickes сендвич (Sandwich) mit Кашкавал (Kaschkawal), einem typischen Schafsmilchkäse des Balkans.
Bild vergrössernOrientalische Klänge aus dem Radio und eine ruhige Sonn­tag-auf-dem-Dorf-Atmosphäre vor meinen Augen lassen mich pudelwohl fühlen. Es fehlte nur noch eine gast­freund­li­che balkanische Großfamilie, die mich zu sich nach Hause einladen würde, und mein Glück wäre unübertroffen. Zu Vaters Zei­ten war ein Reisender noch etwas Besonderes, man fühlte sich beehrt, ihn als Gast zu haben. Tempi passati! Ich be­gnü­ge mich mit der Ausstrahlung des Ortes! Das Wiehern eines Fohlen, das am Stra­ßen­rand grast, und ein пиво (Pivo = Bier) bringen wieder Leichtigkeit in meine Gedanken.
Heraklea (Хераклея)
Mein nächster Versuch gilt der Kultur. Wenige Kilometer von Bitola entfernt liegt die Aus­grabungsstätte von Heraklea Lynkestis, der antiken Stadt, die von Philipp II., dem Vater von Alexander dem Großen gegründet wurde. Später, als sie dem Römischen Reich einverleibt wurde, entwickelte sie eine Hochkultur, die bis ins fünfte Jahrhundert anhielt.
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Große Teile der freigelegten antiken Heraklea können heute besichtigt werden. Zahl­rei­che Objekte aus der Zeit des makedonischen Königreiches sowie aus jener der rö­mi­schen Herrschaft (Denkmäler, eine Säulenhalle, Thermen, ein Theater und Reste der Stadtmauern) zeigen sich dem Besucher.
Für einen Laien wie mich ist die Ausgrabungsstelle ziemlich ernüchternd. Ich versuche, den Hauch der Geschichte zu spüren, es will mir aber partout nicht gelingen: Zu klein ist die Anlage, zu sehr bleiben immer Baubaracken, Zelte, Strommaste und die Häuser im Hintergrund im Blickfeld. Nicht zu sprechen von den Touristenscharen. Und doch, als ich im kleinen Museum ein Exponat entdecke, der aus Teilstücken einer Vase aus blauem Glas besteht, bin ich baff. Ich dachte, das Glas sei erst viel später erfunden worden.
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Das Missverständnis ist darauf zurückzuführen, dass ich an Fensterglas dachte. In der Tat bestand nördlich der Alpen bis ins Mittelalter die Füllung der Fensteröffnungen noch nicht aus Glas, sondern meistens aus Pergament oder Leinenstoff (die Römer benutzten Glasfenster hingegen bereits seit dem 1. Jh. v. Chr.).
Und etwas später, als das Nachmittagslicht etwas schmeichelnder geworden ist und die Besuchergruppe fast verschwunden, gelingt es mir für wenige Augenblicke den Geist des Ortes zu spüren. Auch die Faszination, die von den gut erhaltenen spätantiken Mo­sa­iken ausgeht, trägt dazu bei.
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Die Zeit
Zum ersten Mal ist mir, endgültig von jeglicher Illusion befreit, völlig ins Bewusstsein gekommen, dass von der Zeit, in der mein Vater diese Gegend durchkreuzte, also jener vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so gut wie nichts übrig geblieben ist, außer diese wunderbare, immer noch ursprüngliche Landschaft. Die Hotels, in denen ich übernachte, gab es damals noch nicht. Von den bäuerlichen würfelförmigen Häusern mit flachem Spitzdach gibt es nur noch wenige Exemplare, denn die traditionelle Bauweise hat einem 08/15-Stil Platz gemacht, der gar nichts Typisches mehr hat, abgesehen von der im Bal­kan überall verbreiteten Angewohnheit, jedes Häuschen mit Säulen, Säulchen und al­ler­lei Kitsch zu einem Schlösschen gestalten zu wollen.
Bild vergrössernDamals gab es auf dem Lande kaum Autos, keine Traktoren, man lebte mit den Haus­tie­ren wie in den Jahrhunderten davor! Ein alter Mann auf einem von einem Esel gezo­ge­nen Karren ist heute die Ausnahme, die bald auch verschwunden sein wird. Die tra­di­tio­nelle Tracht, die vor die Machtergreifung der Kommunisten auf dem Land gang und gä­be war, ist völlig verschwunden aus den Ortsbildern. Ein Fotoapparat war 1942 ein Wunder, eine Ehre abgelichtet zu wer­den, heute werden die fotografierenden Touristen, die meinen, un­be­dingt „das bunte Treiben“ auf einem Markt festhalten zu wollen, eher als Belästigung angesehen.
Im Hotel Kristal Palas in Prilep (Прилеп)
Ich sitze im Restaurant des Viersternehotels Кристал Палас und werde von einer un­an­genehmen Stimme mit einem noch unan­ge­nehmeren amerikanischen Akzent aus der Ferne dauerbeschallt. Der füllige Mann sitzt an einem Tisch am anderen Ende dieses absolut nüchternen und unpersönlichen Raumes und redet ununterbrochen und auf eine belehrende Art den jungen Mazedonier ein, der ihm gegenüber sitzt. Dieser kommt kein einziges Mal zu Wort.
Am Nebentisch sitzt hingegen ein sympathischer junger Deutscher, ein Geologe, der für einige Wochen hier tätig ist. Dieses Gebiet gehöre, so erläutert er mir, eigentlich zu Afri­ka. Es sei ein Mikrokontinent, dass sich vor Millionen Jahren vom afrikanischen Kon­ti­nent abspaltete. Mazedonien liege nämlich in einer seismologisch äußerst aktiven Region
zwi­schen der Eurasischen und der Afrikanischen Plat­te. Zur Erinnerung: Am 26. Juli 1963 erschütterte ein Erdbeben der Magnitude 6,0 die Region um Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens. Nahezu die ganze Alt­stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht. Auch öf­fentliche Gebäude, Schulen und Krankenhäuser er­lit­ten schwere Schäden. Etwa 75 % der Bevölkerung verlor binnen Sekunden ihre Unterkunft. Nur 20 % der Gebäude blieben frei von starken Schäden.
Ein Stockwerk höher findet gerade eine Hochzeitsfeier statt. Als ich die Treppen hinauf­gehe, sehe ich durch eine offene Tür, wie eine Riege junger Leute in einem großen Kreis beim Klang orientalischer Musik tanzt. Ich gäbe ein Königreich, um daran teilnehmen zu können!
Montag, 1. Juni
Demir Kapija (Демир Капија)
Es ist ein ganz schmaler Grat, der die Unlust von jenem merkwürdigen Gefühl trennt, das nur schwer zu beschreien ist, weil es hundert Facetten haben kann: Neugierde, Ta­tendrang, Begeisterung, Fas­zi­nation, Überschwang, Hochspannung, Erregung, Erwar­tung, Euphorie, ...
Gerade noch war ich auf der Schnellstraße nach Gevgelija (Гевгелија) unterwegs, ein langweiliger grauer Himmel über mir und der sterile makellose Asphalt vor mir, der mir zum verhassten Symbol von Schnelligkeit und Nicht-in-Kontakt-sein geworden ist. Kaum habe ich aber die Abzweigung nach Demir Kapija (vom Türkischen Demir Kapı, Eisernes Tor) genommen, schon spüre ich wieder dieses innere Aufatmen, diese aufflammende Neugier. Das völlig unscheinbare Dorf strahlt eine gemütliche Ländlichkeit aus, mit klei­nen Läden, geringem Verkehr, einer von Linden und Ahornen gesäumten Straße und Menschen, die gemütlich vor den Cafés sitzen, vorbeiradeln oder mit dem Moped hin und her flitzen. Sporadisch tuckert auch ein alter Traktor die Straße entlang.
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Das Grau des Himmels wird vom bedrohlich wirkenden Sausen des Windes in den Blatt­kronen der Bäume begleitet. Und dies verleiht dem Ort und dem Augenblick eine Aura des Geheimnisvollen.
Etwas später sitze ich in einem Restaurant (Pесторан) an der Hauptstraße und zeige dem Kellner meinen Reiseführer mit einem Foto des Eisernen Tores. Sein Englisch lässt zu wün­schen übrig, so holt er seinen Chef zur Hilfe. Dieser spricht allerdings überhaupt kein Wort Englisch, dafür aber drei – oder sind es vier? – Wörter Deutsch. Angel, so heißt er, sieht aus wie der freundliche Räuber Hotzenplotz und erklärt sich sofort bereit, mich zur Stelle zu begleiten und mir alles zu erklären. Und bevor ich widersprechen kann, sitzen wir bereits in seinem Auto und fahren zum Eisernen Tor.
Das Eiserne Tor
Bild vergrössernWir fahren durch den Ort und dann zunächst einer as­phal­tierten Straße entlang, die sich nach einem knappen Kilo­meter in ei­ne Schotterpiste verwandelt, die parallel zu den Ei­senbahnschienen und dem Fluss Varda verläuft. Diese von Deutschen zu einer Heer­straße ausgebaute Straße ist heute fast zu einem Feldweg verkommen, auf dem man Esels­wa­gen begegnen kann. Urplötzlich, wie aus dem Nichts er­schei­nend, erheben sich rechts und links von Straße und Fluss steile Felswände, die bis unmittelbar an den Wasserlauf heranrücken. Schlagartig ist dieses unbeschreibliche Gefühl bei mir wieder da, das ich als Kind hatte, als ich eine neue "Entdeckung" machte – eine Ahnung von Abenteuer! An der schmalsten Stelle der Schlucht, am sogenannten Ei­sentor, da scheiterten in fernen Jahrhunderten so manche Invasoren.
Plötzlich stehen wir vor einem steilen Felsen, durch den ein Tunnel führt. Dieser soll von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg gebaut worden sein, als Ersatz für den schmäleren Tunnel, den der deutsche Kaiser Wilhelm II. bereits während des Ersten Welt­krie­ges hier bauen ließ. Der Hauch des Windes und jener der Ge­schichte kriechen mir in den Nacken und lassen mich erschaudern.
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Angel macht mich auf eine Inschrift aufmerksam, die in großen Lettern in den Fels ge­mei­ßelt ist: „Wil­helm II., deutscher Kaiser, König von Preußen, befahl seinen Sol­daten, diese Straße zu bauen. 1916“. Unterhalb der Inschrift der kleinere Tunnel, der heute mit einer Tür verschlossen ist und als Lager dient. Wie Aladin in Tausendundeine Nacht öffnet Angel mir dieses Tor und lässt mich in die etwas unheimlich wirkende Dun­kel­heit des Tunnels eintreten. Geritzt in Stein ist an einer Wand zu lesen, dass der Tun­nel in nur zwei Monaten durchbohrt worden ist. Leider bleibt vieles von dem, was er mir erklären will, wegen der Sprachschwierigkeit auf der Strecke.
Angel erzählt, dass an dieser Stelle die tür­ki­schen Heere eingedrungen sind, als sie sich aufmachten, den Balkan zu erobern. Was indessen in keinem Reise­füh­rer zu lesen ist: Unten im Fluss soll eine Lokomotive liegen, die man im Juli, wenn der Wasserpegel der Vardar niedriger ist, sogar sehen könne. Es sei ein Zug der Deutschen Wehrmacht ge­we­sen, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von bulgarischen Flugzeugen bom­bar­diert worden sei. Bulgarien, das zunächst ein Alliierter Deutschlands gewesen war, schlug sich dann auf die Seite der Alliierten. Des Weiteren erzählt Angel vom geheim­nis­vol­len Gold, das General Rommel auf der Flucht aus Afrika in diesen Bergen irgendwo versteckt haben soll.
Zurück im Ort besteht Angel darauf, dass ich mit ihm und seinen Freunden noch ein Bier trinke, was meine Hypothese der verloren gegangenen Gastfreundlichkeit Lüge straft. Ich fühle mich beschämt.
Am Dojransko ezero (Дојранско Езеро)
Bild vergrössernIm Café Restaurant Pascalin (im Ort Dojran am gleich­na­migen See) ist die Speisekarte nur noch auf Kyrillisch und der Kellner beherrscht gerade drei Wörter Deutsch und fünf Englisch. Jedes mal, wenn er den Eindruck hat, ich wolle et­was bestellen, kommt er an meinen Tisch und plappert et­was Unverständliches vor sich hin. Ich überlasse also mein Abendessen dem Zufall: Es wir gebratener Fisch! Drüben, auf dem anderen Ufa des Dojransees leuchten die Lichter eines Ortes in Griechenland. Am Seeufer quaken Hunderte von Fröschen, was mich an Balatonalmadi in Ungarn er­innert. Nur dass dieser Ort einen viel armseligen Eindruck auf mich macht.