18. April (Karfreitag)
Abends in Buenos Aires
Angelehnt an das geschlossene Rollgitter eines Ladens sitzt ein Bettler auf dem Bo­den und beobachtet trübsinnig den Rummel vor seinen Augen. Die Avenida Lavalle im Microcentro ist auch an diesem Karfreitag gesteckt voll. Einige Tan­go­tänzer ani­mie­ren die Zuschauer dazu, sich mit ihnen in ei­ner Tangostellung fotografieren zu las­sen. „Choripan“-Verkäufer bieten ihre brut­zeln­de Ware an, ein Panflötenspieler spielt, kaum hörbar, aber virtuos die Melodie „I did it my way“.
Erst gegen 21 Uhr verkriecht sich die Mehrheit in die Speisegaststätten. Der Zufall wollte, dass genau neben meinem Hotel das Café und Restaurant „Los Immortales“ liegt, in dem ich vor einigen Jahren aus­ge­zeichnet gegessen habe. Um Viertel nach Neun ist kein Tisch mehr frei.
Im Fernsehen – kein Lokal in Ar­gen­tinien ohne ein TV-Ge­rät – wird gerade die Kreuzwegprozession in einem „barrio“ (Viertel) von Buenos Aires übertragen. Dann spricht ein gewisser Padre Ignacio von der Kreuz­weg­pro­zes­sion (Via Crucis) in Rosario. Tausende Besucher werden erwartet. Die Polizei soll verstärkt werden, um der Sicherheitssituation Herr zu werden.
19. April (Karsamstag)
Mein Ziel ist das weit im Nordosten des Landes gelegene Naturschutzgebiet Esteros del Iberá, ein 13.000 km² großes Sumpfgebiet in der Provinz Cor­rien­tes, im Grenz­ge­biet zu Brasilien und Paraguay. Die Esteros del Iberá sind nach dem Pantanal in Brasilien das größte Feuchtgebiet der Erde.
Und weil der Nationalpark mehr als achthundert Kilometer von Buenos Aires entfernt ist, will ich zu­nächst mit dem Bus nach Rosario fahren, der nach Buenos Aires und Córdoba dritt­größ­ten Stadt Argentiniens, dort übernachten, und dann am Folgetag per Mietauto weiterfahren.
Ich hatte aber die Rechnung ohne die Tatsache gemacht, dass am Ostersonntag alle Autovermieter üblicherweise geschlossen sind. So kostete es mich vie­le Tele­fo­nate, bis ich eine "empresa de alquiler de coches" fand, die dazu bereit war – selbst­verständlich gegen einen Aufpreis –, mir das Auto in den frühen Stunden des Oster­sonntags direkt zum Hotel zu bringen.
Das Abenteuer beginnt
Für die etwas mehr als dreihundert Kilometer vom Busbahnhof Retiro in Buenos Aires bis nach Rosario braucht der Bus etwas mehr al vier Stunden.
Rosario
Kurz im Hotel Solans Libertador ausruhen, dann zieht es mich zur „costanera“ (Ufer­pro­menade) am Paranà-Fluss, nur einen knappen Kilometer vom Hotel entfernt.
Am Ufer des Paranà
In Sicht­weite des Flusses befindet sich die meistbesuchte Touristenattraktion, das „Monu­men­to Histórico Nacional a la Bandera“, ein 1957 nach 14-jähriger Bauzeit fertiggestelltes Denkmal, das an das erstmalige Hissen der blau-weißen argentinischen Natio­nal­flag­ge durch General Manuel Belgrano im Jahr 1812 am Ufer des Paraná erinnert.
Die „Römer“
Bereits auf den Treppen des Monuments kommen mir zahlreiche „römische Legionäre“ entgegen sowie Männer und Frauen in Tunika und Toga, die später, kurz nach der Dämmerung, an der Aufführung der „Via Crucis“ (des Kreuzwegs Christi) teilnehmen werden. Im kleinen Park am Fluss­ufer herrscht bereits eine Kirmesatmosphäre. Zwischen der Hochhäuserkulisse der Stadt und dem Fluss­ufer ist es ein Hin und Her von normal an­gezogenen und kostümierten Men­schen, die meisten der Letzteren in orientalisch anmutenden Kaftanen. Eine Ka­pel­le spielt im Namen der „Pueblos Originarios“ (Ur­be­völ­ke­rung) la­tein­ame­rikanische Musik.
Via Crucis
Ich bin vermutlich der einzige ausländische Tourist in Rosario, einer Stadt, die kaum Sehenswürdigkiten zu bieten hat und daher abseits aller klassischen Reiserouten Argentiniens liegt. Das hat für mich den Vorteil, dass ich (be­son­ders we­gen meiner professionell wirkenden Fotokamera) eine „auffallende“ Erscheinung bin und problemlos zu den Darstellern der Passion Christi Kontakt finde. Unter anderen unterhalte ich mich mit dem Christus-Darsteller.
Der Christus-Darsteller mit dem Autor
Das Schauspiel um den Leidensweg Jesu Christi beginnt kurz vor Einbruch der Dun­kel­heit. Auf drei kleinen Bühnen werden die Hauptszenen gespielt: das letzte Abend­mahl, die Verurteilung am Amtssitz des Pilatus, der Höhepunkt der Kreuzigung. Die Episoden auf dem Weg zum Golgota (Jesus, der un­ter dem Kreuz fällt, das Aufsetzen der Dornenkrone, die Begegnung mit seiner Mutter und den weinenden Frau­en, die Übergabe des Schweißtuchs durch Veronika, ...) werden auf dem kleinen, freigehaltenen Gelände zwi­schen den Bühnen szenisch dargestellt.
Jesus spricht zu seinen Jüngern
Dieses wird durch mobile Absperrungen von den Publikumsmassen getrennt. Ordner achten darauf, dass es zu keinen Zwischenfällen kommt und nie­mand außer den Darstellern das Areal betritt. Niemand außer den Akteuren, einer kleinen Filmtruppe und – mir. Mich hat näm­lich das Glück ereilt, die Be­kannt­schaft mit einem freundlichen älteren Herrn zu machen, der mich unter seine Fittiche ge­nom­men hat.
Es sei „Sirio-Libanés“, so nenne man in Argentinien die arabi­schen Einwanderer, weil die Syrer und die Libanesen die stärk­sten Gemeinschaften bildeten. Die Ersten von ihnen seien bereits Mitte des 19. Jahr­hunderts ins Land gekommen, auf der Flucht vor der Un­ter­drü­ckung im Osmanischen Reich. Von den 3,5 Millionen Argentiniern ara­bi­schen Ur­sprungs sind nur etwa 600.000 Muslime. Alle an­dere sind Christen, so auch mein Be­glei­ter, der an der Organisation des heu­tigen Schauspiels beteiligt ist. So sorgt er gleich dafür, dass ich als „fo­to­grafo ale­mán“ (deutscher Fotograf) hinter die Ab­sper­rung gehen darf, um ein paar Auf­nah­men machen zu können.
Christus auf dem Kreuz
Aber es ist nicht so sehr die Möglichkeit, fotografieren zu können, ohne die Köpfe von Zuschauern dauernd vor der Linse zu haben, die mich in eine positive geistige Ver­fas­sung versetzt. Bald merke ich nämlich, dass die Aufführung, die ich gerade er­le­be, für die Hunderten Menschen rund um mich alles andere ist als eine „Show“: Es ist Glaubensinhalt!
Maria weint um ihren Sohn
Ich spüre, dass sowohl die Schauspieler als auch die Zuschauer die Darstellung der Leiden Christi miterleben, mitfühlen und mitleiden – zweifelsohne ge­leitet von einem tiefen Glauben. Als Christus auf dem Kreuz stirbt, ge­ra­te ich selbst in eine emotionale Verfassung, die mich erstaunlich stark mitnimmt. Als schließlich Jesus vom Kreuz genommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt wird, und ich die völlige Echtheit der Trauer der „Muttergottes“-Darstellerin wahrnehme, bin ich selbst den Tränen nahe.
Resurrexit
20. April (Ostersonntag)
Entre Rios
Pünktlich um 10 Uhr kommt der Fahrer von AVIS mit dem Mietauto. Dank des güns­tigen Wechselkurses kostet mich dieses umgerechnet kaum 40 Euro/Tag. Ich lade mein Gepäck auf, setze mich hinters Lenkrad und fühle mich schlag­artig unwahr­schein­lich frei. Ich habe zwar ein genaues Ziel vor Augen, fühle mich aber offen für Entdeckungen und ungeplante Etappen. Ob ich die mehr als 500 km entfernte Stadt Mercedes (in der Provinz Corrientes) innerhalb eines Tages erreichen kann, ist so­wieso stark zu bezweifeln.
In der Tat gestaltet sich die Fahrt anstrengender als gedacht. Ich fahre und fahre durch eine langweilige flache Landschaft auf schnurgeraden Straßen ohne jegliche Abwechslung und unter einem diesigen Himmel, der alle Konturen in der Ferne ver­schwin­den lässt. Riesengroße brachliegende Flächen wechseln sich mit endlosen So­ja-Fel­dern ab, das grelle Licht blendet und das Fehlen von optischen Be­zugs­punk­ten lässt den Eindruck entstehen, dass ich mich kaum vom Fleck bewege.
Soya-Feld und Bewässerungsanlage
Es ist fast 13 Uhr, als ich Nogoyá erreiche, einen bedeutungslosen Ort im Nichts der argentinischen Weiten. Mein Versuch, ein Restaurant zu finden, ist zwar erfolgreich, aber auch diesbezüglich hatte ich nicht berücksichtigt, dass es heute Ostersonntag ist. Das erste Res­tau­rant mit „parilla“ ist gesteckt voll. Ganze Familienclans schlagen sich den Magen voll im Namen des Herrn. Ohne Reservierung also keine Chance! Wobei mir so­fort klar wird, dass es sowieso nicht ratsam ist, mich mit gegrillten Fleisch voll­zu­stop­fen, der Weiterfahrt wäre es ganz und gar nicht zuträglich. So finde ich mit Mühe und Not ei­nen winzigen, an diesem Feiertag offenen Lebensmittelladen, den „Kiosco Evita“ – die Erinnerung an Eva Peron lebt! –, wo ich schließlich ein paar „empanadas“ bekomme.
Kiosko Evita
Als ich nach weiteren zwei Stunden Fahrt im ebenso bedeutungslosen Villaguay an­komme, ist es langsam Zeit, an ein Ziel für die Nacht zu denken. In wenigen Stun­den wird es bereits dunkeln. In Villaguay gab es, so teilt mir der Mann von der Tank­stelle mit, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts zahl­rei­che eu­ro­päische Siedlungen, unter denen eine mit Wolgadeutschen (Colonia Alema­nia) und eine mit Deutschen (Colonia Nueva Ale­ma­nia). Jedes Mal, wenn ich erwäh­ne, dass ich aus Deutschland komme, fühlen sich mei­ne Gesprächspartner dazu ver­pflichtet, mir ähnliche historische Details zu nen­nen. Das mag interessant sein, weil aber die Stadt eine eher gesichtslose An­samm­lung von im Schach­brett­muster angeordneten kleinen Häusern ist, fühle ich mich trotzdem nicht zum Bleiben inspiriert.
Pampasgras
Langsam verliert die Landschaft ihren staubig-trockenen Charakter. Vereinzelte Sümpfe und das Fehlen der Landwirtschaft machen sie kurzweilig. Man spürt die Nähe des großen Flusses, des Paranà.
La Paz
Fast zufällig lande ich in La Paz, einem verschlafenen Kolonialstädtchen im Nordosten der Provinz „Entre Ríos“ („Zwischen den Flüssen“). Die Provinz verdankt diesen Na­men ihrer geografischen Lage zwischen dem Río Paraná und dem Río Uruguay. Oft wird diese Gegend auch als „Mesopotamien Argentiniens“ bezeichnet.
Ein kleines Haus in La Paz
Es ist bereits 18 Uhr, als ich ankomme. In diesen Breitengraden ist dies kurz vor Son­nenuntergang. Die Luft ist kristallklar, ein Licht aus sanften gelben, rosa und hell­blauen Pastelltönen verhilft dem Ort zu einem berauschenden Flair. Also checke ich schnell im Gran Hotel La Paz ein und eile zum Flussufer, um den Zauber des Abends in vollen Zügen genießen zu können.
Palo-borracho-Bäume am Paranà-Ufer
Die Stadt zieht sich die Küste des majestätischen Río Paraná entlang, der hier stel­len­weise mehr als zwei Kilometer breit ist. Weiße Sand­bänke liegen am Fuße von stei­len Klippen. Unweit vom Hotel befindet sich ein kleiner Park, von dem die Aussicht auf den Fluss besonders beeidruckend ist.
Der Río Paraná, dessen Name in der Sprache der Guaraní “Verwandter des Meeres” bedeutet, entsteht im Süden Brasiliens am Zusammenfluss des Paranaíba und des Rio Grande, und mündet in den Río de la Plata, nach etwa 3.940 Kilometern.
Grand Hotel La Paz
Das Hotel habe ich diesmal nicht im Voraus übers Internet gebucht, sondern aufs Ge­ratewohl gefunden. Diese Tatsache gibt mir einmal mehr das Gefühl, frei zu sein und erst jetzt richtig anfangen zu reisen. Herr Gomez, der Mann an der Rezeption, ver­wick­elt mich nach meiner Rück­kehr vom Abendspaziergang in ein langes Gespräch über die Probleme Argen­ti­niens, das Studium seines Sohnes im fernen Buenos Aires und die tou­ris­ti­schen Mög­lich­kei­ten dieser kleinen Stadt. Kanu fahren, angeln, ent­spannen, am Liebsten würde ich gleich ein paar Tage hier bleiben, in diesen Ort, wo vermutlich fast ausschließlich argentinische Touristen Urlaub machen. Aber so frei bin ich dann doch nicht.
Verloren in der Zeit
Zum Abendessen gibt es „Surubí en papillote“, in Folie gebackenen Surubí in fei­ner Weißweinsoße mit ge­schnetzeltem Gemüse und frischen Kräutern. Beim Surubí han­delt es sich um eine Fischart, die wir als Tigerwels bezeichnen. Sein wohl­schmeck­en­des Fleisch macht ihn zu einem sehr beliebten Speisefisch. Da er kapitale Gewichte erreicht, ist er bei Anglern ein beliebter Sportfisch. In Entre Ríos werden jährlich 27.000 Tonnen davon gefangen.
Sonnenuntergang am Paranà
21. April
Corrientes
Der Leuchtturm im Park
Bis Mittag schlendere ich noch gemütlich durch die Stadt. Ich bin fasziniert. Weiter abseits der be­kann­ten Touristenrouten wie jetzt, war ich noch nie. Aber ob ich es heute noch schaffe werde, bis Mercedes zu kom­men, der Hauptstadt der Provinz Corrientes? Immerhin ist sie noch mehr als 270 km entfernt.
Die Kirche Santa Rita de Casia in Esquina
Eine Etappe mache ich in Esquina, ein ebenso kleiner Urlaubsort am Paranà, wenn auch nicht so charmant wie La Paz, wo ich im örtlichen Spielkasino, denn offene Res­tau­rants finde ich keine, ein paar – was sonst? – „empanadas“ zu mir nehme.
Lapacho Amarillo (Tabebuia alba)
Langsam kommt wieder Begeisterung in mir auf. Der Fluss, die tropische Atmosphäre, die Farben der Blumen. Ich möchte bleiben! Aber mein Ziel ist noch weit!