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Donnerstag, 8. Dezember
Asche
Als ich aufwache, ist das gegenüberliegende Seeufer kaum zu sehen, so dicht ist der Aschenebel. Mein Kopf ist schwer und voller düsterer Gedanken, und ich würde am Liebsten liegen bleiben und mich in ein Buch vertiefen. Die Vulkanasche in der Luft kommt immer näher. Kurz nach Mittag ist Bariloche in eine neblige, die Atemwege reizende Brühe eingetaucht. Also wird heute nichts mit Besichtigen und Fotografieren. Zum ersten Mal setze auch ich heute eine Atemschutzmaske auf.
Da sich der Großteil meiner Reise im südlicheren Teil Patagoniens abgespielt hat, war ich bisher von den Folgen der Vulkaneruption verschont geblieben. Nicht so Eva, Ro­ber­to und Daniela. Bei ihnen ist nicht nur der Besuch der be­rühm­ten Iguazú-Was­ser­fäl­le ausgefallen – wegen der Aschewolke war der Flug­ha­fen von Puerto Iguazú zeit­weise gesperrt –, sondern auch der Aufenthalt auf der Halbinsel Valdés nicht optimal verlaufen, sprich: nebelig-grauer Himmel!
Freitag, 9. Dezember
Nationalpark Nahuel Huapi - zum Río Manso
Nach dem gestrigen Vulkanasche-Smog wieder ein herrlich klarer Tag! Vor­sich­ti­ger­weise schlage ich vor, unsere Besichtigungswünsche auf eine etwas weiter südlich gelegene Gegend zu konzentrieren, wo es – so mutmaße ich – unwahrscheinlicher ist, dass ein mit Vulkanasche geladener Wind die herrlichen Landschaftsbilder trübt. Ich möchte die Strecke wieder fahren, die ich bei meinem ersten Aufenthalt in Bari­lo­che so schön fand, wenn mich auch damals eine Autopanne am Erreichen meines Zieles, des Cerro Tronador, gehindert hatte. Wir fahren also auf der berühmten Ruta 40 in Richtung Süden, zunächst den Lago Gutierrez, dann den Lago Mascardi entlang bis zu den vier Häusern der Villa Mascardi. Hier zweigen wir in die Ruta 81 ab, die uns nach wenigen Kilometern zum Eingang des Nationalparks Nahuel Huapi führt. Der Eintritt ist kostenpflichtig und für nicht in Argentinien lebende Ausländer vier Mal so teuer wie für Argentinier!
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Als erster argentinischer Naturpark wurde 1922 der Parque Nacional del Sur vom argentinischen Geografen, Anthropologen und Entdecker Perito Moreno ein­ge­rich­tet, der zu diesem Zweck dem Staat ein Grundstück von 75 km² vermachte. 1934 wurde das Gebiet per Gesetz zum Nationalpark Nahuel Huapi ernannt. 1981 wurde der Park zum UNESCO-Welterbe ernannt.
Es ist nicht mehr sehr früh am Tag, so bezweifeln die Ran­ger (zu Deutsch: Schutz­ge­biets­betreuer), dass wir es noch schaffen könnten, nach Pam­pa Linda zu fahren, so­lan­ge die Straße noch offen ist. Denn ein Teil dieser Straße darf wegen ihrer ge­rin­gen Breite nach wie vor nur alternierend in die zwei Richtungen befahren werden. Etwa vor­mittags hin und nachmittags zurück. Wir beabsichtigen aber nur bis zum Camping Los Rapidos zu fahren. Bis dorthin ist die Straße in beiden Richtungen offen.
Die Strecke "de ripio", die zum Campingplatz führt, hat für mich längst ihren be­droh­lichen Cha­rak­ter verloren. An manchen Stellen muss ich zwar immer noch sehr auf­passen, aber ich habe mich wohl an den „ripio“ gewöhnt. Schließlich bin ich hier auch schon zum dritten Mal in Bariloche. Ich fühle mich – das gilt übrigens für die ganze Zeit hier in Ba­riloche – mehr als Touristenführer für die Familie, denn als Entdecker.
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Aber auch beim dritten Mal hat die Anziehungskraft dieses Stückchen Erde auf mich nicht nachgelassen. Bild vergrössern Der Zeltplatz ist zwar nicht so verwaist, wie bei meinem ersten Besuch, aber die riesigen Coihue-Bäume, deren Äste bis tief übers Wasser reichen, der bläulich bis smaragdgrüne Río Manso, das Bam­bus­dickicht und vor allem die Stille, die gibt es immer noch. Die toten Bäume und der Altmännerbart (eine Flech­tenart), der von vie­len Ästen herunterhängt, geben dieser Stille ein leicht gru­se­liges Antlitz.
Samstag, 10. Dezember
Nahuel-Huapi-See
Nahuel Huapi bedeutet in der Sprache der MapucheInsel des Jaguars", was sich auf die Isla Victoria bezieht, die größte Insel des Sees. Der See ist fjordartig verzweigt und hat eine Fläche von 557 km² (etwas größer als der Bodensee) mit einer maxi­ma­len Tiefe von 465 m.

BUCHEMPFEHLUNG
Patagonien: Das südliche Ende der Welt: Wüsten, Fjord­land­schaften, Steppen, Vul­kane, Gletscher - feuch­te und kühle Regen­wald­ge­bie­te im Westen, eine karge, tro­ck­ene Step­pen­land­schaft im Osten. Reiner Sahm hat wun­der­bare Aufnahmen aus der „Heimat der Winde“ mitgebracht.

Modesta Victoria

Schon eine ganze Weile stehen wir un­schlüs­sig im kleinen Hafen Puerto Pañuelo. Ein starker Wind weht, dass unsere Windjacken nur so flattern, und es sieht ganz danach aus, als würde es auch bald regnen. Schließlich ent­schei­den wir uns doch dazu, einen Ausflug zum Arrayanes-Wald und der Insel Victoria zu machen.

Für mich kommt nur das Ausflugsschiff Modesta Victoria infrage, das bereits seit 1938 seinen Dienst auf dem See leistet und einen ganz eigenen altmodischen Charme aus­strahlt. Ganz anders die modernen, futuristisch und plump aussehenden Kata­ma­ra­ne: Das sind für mich keine Schiffe, nur „Beförderungsmittel". Die Modesta Victoria wur­de 1937 in Amsterdam im Auftrag der Verwaltung der argentinischen Nationalparks gebaut, in der Zeit, als Don Exequiel Bustillo deren Präsident war.
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Das Schiff wurde in Teile zerlegt auf einem Überseedampfer nach Buenos Aires ge­bracht und von dort per Eisenbahn weiter nach Bariloche befördert, wo es wieder zu­sammengebaut wurde. Im Rahmen eines großen Festakts am 12. Oktober 1938 lief es vom Stapel. Seitdem fährt das mit einer Cafeteria ausgestattete Motorschiff das ganze Jahr über den See. Nur manchmal am Ende des Sommers, wenn der Wasser­pe­gel zu sehr gesunken ist, kann das Schiff nicht eingesetzt werden.
1960 rettete sich die Modesta Victoria wie durch ein Wunder, als ein starkes See­be­ben, das von einem Erdbeben in Chile verursacht worden war, die Gegend erschüt­ter­te. Heute ist keine Ver­si­che­rungs­ge­sell­schaft mehr bereit, das alte Schiff zu ver­si­chern. Gut, dass es die meisten Tou­risten nicht wissen.
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Unter vielen anderen reiste auch ErnestoChe“ Guevara auf seiner Reise durch Süd­amerika zu­sam­men mit seinem Reisegefährten Alberto Granado mit diesem Schiff. Sie fuhren 1952 mit diesem Schiff bis zur chi­lenischen Grenze – das kann man in Guevaras Diários de Motocicleta nach­lesen.
Bosque de Arrayanes
Unsere erste Etappe ist die Halbinsel Quetrihué. Obwohl die Halbinsel schon seit 1934 innerhalb des Nahuel-Huapi-Nationalparks unter Schutz stand, wurde sie 1971 spe­ziell zum Schutz der Arrayán-Myrtenbäume (Luma apiculata) als eigener Natio­nal­park gegründet (Parque Nacional Los Arrayanes). Der Arrayanes-Wald ist einzigartig auf der Welt, denn seine Bäume, die sich durch eine zimtfarbene, glatte Rinde mit weißen Flecken auszeichnen, sind in dieser Form nirgendwo sonst zu finden. Im „Bosque de Arrayanes” auf Quetrihuè wuchs diese Pflanze zu über 15 Meter hohen Bäumen he­ran, anderswo findet man die Arrayanes eher in Form von Sträuchern.
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Die äußerst langsam wachsenden, schmalen Bäume sind hier bis zu 600 Jahre alt. Zum Schutz der jungen Bäume dürfen die Besucher nur auf einer „pasarela“ (einem Holzweg) durch das Gelände gehen.

Isla Victoria
Die „touristische“ Geschichte der Insel begann 1902, als ein reicher Mann namens Aaron Anchorena zusammen mit ein paar Freunden die Insel besuchte. Überwältigt von der Schönheit der Insel beschloss Anchorena, das Eiland in seine Vision von ei­nem „kleinen Paradies“ zu verwandeln. Er versuchte zunächst, die Insel zu kaufen, aber weil die Insel als unveräußerliches Eigentum der Nation galt, erhielt er nur ein lebenslanges Nutzungsrecht.
Unter seiner Leitung machte der zentrale Teil der Insel eine allmähliche Verwandlung durch, mit der Einführung von exotischen Bäumen und Zierpflanzen aus der ganzen Welt, der Gestaltung von Touristenpfaden, Reitwegen und dem Aufbau der gesamten Infrastruktur, die Anchorenas Traum erforderte. Heutzutage sind eine Allee von ka­li­fornischen Sequoias und das vor kurzem renovierte Haus von Anchorena die auf­fäl­lig­ste Erinnerung an diese Zeit.
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Anchorena baute eine Rinder- und Pferdezucht auf und sorgte für eine vorsichtige und nachhaltige Bewirtschaftung der Natur. Außerdem führte er nicht autochthone Tiere wie Wildschweine, Fasane, Hirsche und sogar Bären ein, die dazu dienen soll­ten, die Anziehungskraft des Ortes als Jagdrevier zu erhöhen.
Wegen Meinungsverschiedenheiten mit der argentinischen Regierung verließ Ancho­rena die Insel etwa zehn Jahre später. Die folgenden Jahre gelten als die „schwarzen Jahre“ der Insel, denn an ihr wurde Raubbau betrieben mit dem Kahlschlag der Wäl­der und der beinahe Ausrottung von den wild lebenden Tieren.
Die Lage verbesserte sich, als die Insel 1937 Teil des Nationalparks Nahuel Huapi wur­de und der Naturschutz und der nachhaltige Tourismus einen hohen Stellenwert bekam. Die Insel wurde in drei Sektoren aufgeteilt: ein Touristensektor, ein Wild­nis­be­reich, der nur von kleinen betreuten Gruppen betreten werden durfte, und ein Bereich, welcher nur von Nationalparkbediensteten und Wissenschaftlern betreten werden durfte.
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Die Wiederaufforstung wurde in den 1940er Jahren auch mit nicht autochthonen Ge­hölzen wie der nordamerikanischen Ponderosa-Kiefer Douglasien, Sequoia-Bäu­men, Monterey-Zypresse, Eichen und Eukalypten betrieben, was aufgrund von de­ren An­pas­sungsfähigkeit und Wachstumsgeschwindigkeit zum Problem für die hei­mischen Arten wurde.
Die Riesenmammutbäume (Sequoias), die man auf der Insel auffindet, erreichen kaum die Dimensionen jener aus Kalifornien. Mir fällt dazu ein interessantes Expe­ri­ment des Psychologen (und Nobelpreisträgers) Daniel Kahnemann ein. Er be­fragte einige Besucher des San Francisco Exploratorium nach der Höhe der höchsten Sequoias. "Beträgt die Höhe mehr oder weniger als 366 Meter?“ War seine For­mu­lie­rung. Bei anderen Versuchspersonen fragte er, ob diese mehr oder weniger als 55 Meter betrug. Die mittleren Schätzwerte der beiden Gruppen unterschieden sich ge­wal­tig: 257 und 86 Meter. Dieses Phänomen, dass Menschen bei bewusst ge­wählten Zahlenwerten von momentan vorhandenen Umgebungsinformationen be­ein­flusst werden, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird, nennt man „Anker­effekt". Dass eine Sequoia ein Viertelkilometer hoch sein kann, ist wohl kaum denkbar. Im­merhin beträgt die Höhe des höchsten lebenden Exemplars im Redwood-Nationalpark in Kalifornien 115,60 m.
Die Verwaltung des Nationalparks treibt die Reaktivierung des alten „Vivero Nacional de Isla Victoria“ (Pflanzgarten) voran, dessen Ziel es unter anderem ist, das frühere Ökosystem wiederherzustellen und die Insel mit einheimischen Bäumen wieder auf­zu­forsten, die ein ähnliches Wachstumspotential aufweisen wie die fremden, rasch wachsenden Koniferen.
Cerro Campanario
Auf der Rückfahrt will Roberto unbedingt noch ein letz­tes Mal – unser Aufenthalt geht dem Ende zu – auf Bild vergrössern den Cerro Campanario. Während Eva und Daniela in einer kleinen Confiteria am See auf uns warten, machen wir uns also auf den Weg. Der Ses­sel­lift ist schon längst außer Betrieb, aber in einer knap­pen halben Stunde ist es zu schaffen. Und wir werden die Aus­sicht für uns al­lein haben. Das Spät­nach­mit­tags­licht ist dra­ma­tisch. Für mich wird es ein Wettlauf mit der Zeit: Oben an­kom­men, bevor die Wolkendecke ihre letzte Lücke ge­schlossen hat. Wir schaffen es gerade noch. Der Gipfel ist nur noch für we­ni­ge Minuten in ein fantastisches Licht getaucht.
Sonntag, 11. Dezember
Letzter Tag in Bariloche
Windig, kalt. Viel mehr ist nicht zu berichten, als dass wir Koffer gepackt haben, Em­pa­nadas im Cocodrilos, der klei­nen Gaststätte am Mitre, gegessen haben und am Abend im Restaurant „Los bifes", ein vorzügliches Restaurant unweit von unserem Bungalow, unsere letzten ba­ri­lochenser Steaks gegessen haben. „Empanadas“ sind gefüllte Teigtaschen, die „al horno“ (im Ofen) oder fritas (gebraten) serviert werden. Es gibt Empanadas mit Rindfleischfüllung (empanadas de carne), Hühner­fleisch­füllung (empanadas de pollo), gefüllt mit Schinken und Käse (empanada de jamón y queso) und mit vielen anderen Füllungen. Sie sind ein idealer Snack, können aber auch ein schmackhaftes, leichtes Abendessen hergeben.
Montag, 12 Dezember
Zurück nach Buenos Aires
On the road again! Roberto und ich haben es vorgezogen, mit dem Bus nach Buenos Aires zu­rück­zu­fah­ren, Eva und Daniela hingegen sind die zwanzig Stunden Fahrt zu viel. Sie werden morgen per Bus nach Esquel fahren und dort – der Flughafen von Bariloche ist ja noch ge­sperrt – den Flieger nehmen.
Ein rührseliger brasilianischer Film unterhält die Passagiere, die in diesem Bus mit dem Bild vergrössern vielversprechenden Namen Cama-Exejutivo-Bus ("Cama"= Bett) in einer herr­lichen Landschaft in Richtung Norden fahren. Das Spatnachmittagslicht verzaubert das Valle Encantado, das ganz am Anfang der zu bewältigenden Strecke liegt, zu einem Seh­erlebnis der be­son­de­ren Art. Nach den bizarren Felsformationen des Valle wird die Landschaft weiter, sie erin­nert mehr und mehr an jene der unzähligen Wild­westfilme, die ich gesehen habe, und ich denke – es ist nicht das erste Mal –, wie schön es wäre, diese Weiten einmal auf einem Pferderücken zu erleben. Als ich ein­mal eine kleine „tropilla de caballos“ (Pferdeschar) vor­bei­ga­lop­pieren sehe, gibt es nicht nur meinem Fo­to­grafenherz einen Stich.
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Während den letzten Lichtstunden des Tages erlebe ich ein Aufleuchten der Wüste zu einem fantastischen warmen, fast roten Farbton, das ohne Zweifel zu einem weiteren Ankerpunkt für meine zukünftige Sehnsucht werden wird. Die ganze Zeit rieseln die Bilder der buseigenen Unterhaltungsmedien auf mich zu. Als bereits seit Langem dun­kel ist und der dritte Film läuft, wird uns vom freundlichen Steward das Abend­es­sen serviert. Dazu lassen wir uns einen hervorra­gen­den Malbec-Wein bringen. Was für ein Service!

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