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Montag, 21. November
Die Zeiten ändern sich
Eigentlich hätte ich heute an einem Minitrekking über den Perito-Moreno-Gletscher teilnehmen wollen. Wegen des unsicheren Wetters wollte ich mich aber erst im letz­ten Moment entscheiden. So bat ich Margarita, mich nur bei Sonnenschein zeitig auf­zuwecken. Als sie die Auskunft bekam, dass die 9-Uhr-Tour bereits ausgebucht war, war sie so lieb, mich schlafen zu lassen. So beschließe ich kurzerhand, nach La Leona zu fahren, quasi zum Gedenken an meine Tante Helga, mit der ich 2004 bereits dort war.
Damals war es noch ein kleines Abenteuer für mich, die fast 120 km lange, un­ge­teer­te ("de ripio") Strecke zu fahren, obwohl ich nicht selbst hinterm Lenkrad saß, son­dern Tantes Freundin Cati, die auch höhere Geschwindigkeit nicht scheute. Ich hätte es vermutlich kaum gewagt, mehr als Tempo 40 zu fahren.
Tempi passati: Das inzwischen fertiggestellte Asphaltband ermöglicht ein rasches Vorankommen, was aber der Strecke den letzten Rest an Abenteuer genommen hat. Ebenso entzaubert wurde denn auch das Hotel Leona, damals kaum mehr als eine Raststation für die zufällig Vorbeifahrenden, heute ein modernes Hotel, das sich mit dem hochklingenden Namen „Parador y Hotel de Campo“ schmückt und für Touristen allerlei maßgeschneiderte sportliche Angebote wie Ausreiten, Fliegenfischen und Raf­ting auf dem Río Leona parat hat. Glücklicherweise ist die Fassade des Kom­ple­xes denkmalgeschützt und übt deshalb in dieser Einsamkeit immer noch eine gewisse Faszination aus.
Butch Cassidy
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Der Fluss und das 1894 von der dänischen Einwandererfamilie Jensen gegründete Hotel erhielten ihren Namen von einem weiblichen Puma ("leona“ im patagonischen Jargon), der im Jahr 1877 den bereits erwähnten Entdecker und Geografen Fran­cisco Moreno genau an dieser Stelle angegriffen und verletzt hatte. Aber das Hotel kann auch mit anderen historischen Episoden aufwarten, die ihm die Aura des Aben­teu­er­lichen verleihen und für einen Hauch von Wildwest-Atmosphäre sorgen.
Im Jahr 1905 hielten sich hier für fast einen Monat drei berüchtigte „gringos“ auf. Es handelte sich um niemanden geringer als die berühmten Gesetzlosen Butch Cassidy und Sundance Kid, Letzterer von seiner Frau Etta Place begleitet. Kurz davor hatten sie noch in Río Gallegos den Banco de Londres y Tarapacá überfallen.
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Immer noch am Anfang des 19. Jahrhunderts kam ein berüchtigter Bild vergrössernbandolero“ (Bandit) aus Uruguay in diese Gegend, Asensio Brunel. Die Raubzüge dieses sich ausschließlich mit Pumafell bekleideten und von rohem Pumafleisch ernährenden Mannes waren legendär. Er galt als eine Mischung aus Robin Hood und Billy the Kid. Er wurde schließlich von einigen Kolonisten dieser Gegend in einer Schießerei, die der besten Wildwest-Filme würdig gewesen wäre, getötet.
Abstecher nach El Chalten
In einer alten APA Guide ist noch zu lesen: „Fünf Jeepstunden auf der Ruta 40 nörd­lich von El Calafate ragt wie eine Fata Morgana aus der Grassteppe das Fitzroy-Mas­siv heraus". Durch den Ausbau dieser legendären Fernstraße sind die Ent­fer­nun­gen und damit die Fahrtzeiten aber erheblich geschrumpft. So lasse ich mich dazu ver­lei­ten, einen Abstecher nach El Chaltén zu machen – nur zum Kennenlernen. Aber allein der Gedanke, dass ich mich zu einen 250 km langen „Tagesausflug“ verleiten lasse, jagt mir die Schamesröte ins Gesicht.
Aber das Wetter ist wolkenlos und klar und ich gehe nach meinem üblichen Motto vor, nach welchem ich zunächst einmal einen Ort besuche, um ihn dann in die Liste jener Stätten einzutragen, die ich mir in Zukunft „mit viel mehr Zeit“ zur Brust neh­men möchte. Nur schade, dass diese Liste immer länger wird, und kaum jemals abgearbeitet wird.

BUCHEMPFEHLUNG
In Patagonien: Ein „Muss“ für Reisende nach Patagonien. Bruce Chatwins behutsame Art, auf die Einheimischen wie auf die Eingewanderten zuzugehen oder den Schicksalen Verschollener nachzuforschen, sind der Schlüssel zu abenteuerlichen Entdeckungen.

Ich nähere mich dem Ort mit Tempo 100 auf einer perfekt asphaltierten, schnur­ge­ra­den Straße, die fast dazu gebaut worden zu sein scheint, den Blick der Reisenden auf die sich allmählich nähernden weltberühmten Berge von der besten Perspektive aus zu ermöglichen. Berge, die zugegebenermaßen äußerst beeindruckend sind. Zumal sie heute nur für mich von jeglicher Bewölkung befreit wurden. So ein freier Blick soll nämlich sehr selten sein. Schließlich heißt der Cerro FitzRoy bei den Mapuche-In­dia­nern nicht ohne Grund El Chaltén, was so gut wie „der Rauchende“ bedeutet, und die Aussage beinhaltet, dass er meistens von Wolken umhüllt ist. Für mich also ein ab­so­luter Glücksfall.
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Im selben alten Reiseführer ist zu lesen, dass es in der Ortschaft El Chaltén, mit der Ausnahme eines sehr teuren Luxusressorts, kaum Hotels gebe. Auch das ist Schnee von gestern. El Chaltén, das erst am 12. Oktober 1985 gegründet wurde und damit zu den jüngsten Ortschaften Argentiniens gehört, ist in wenigen Jahrzehnten gewaltig gewachsen. Bild vergrössernDer Grund ist leicht zu verstehen: Das frühere Expeditions-Ba­sisl­ager bietet den direktesten Zugang zu den Bergmassiven des Cerro Torre und des Fitz Roy und ist deshalb in der Ära des Massentourismus zu einem Bergsteiger- und Trekking-Mekka geworden. Den Namen FitzRoy bekam der Berg übrigens von – wer könnte es sonst sein? – Francisco Moreno, der den Berg nach Robert FitzRoy be­nann­te, dem Kapitän des britischen Forschungsschiffs Beagle, auf dem auch der berühmte Charles Darwin mitreiste.
Der Ort selbst ist, zumindest unter dem klaren Licht des heutigen Tages, ein wahres Schmuck­stück, wenn auch eines aus der Retorte. Man sieht El Chaltén förmlich an, dass seine Häuser in sehr kurzer Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Aber das Resultat lässt sich sehen. Die vielen Bungalows bestechen vor allem mit ihren bunt bemalten Fassaden und mit dem Fehlen jeglicher Überdimensionierung.
Zu mehr als ein Stündchen Wandern komme ich leider nicht, aber es reicht aus, um mir bildlich vorstellen zu können, was für imposante Ausblicke man bei größeren Touren - Wetter vorausgesetzt - haben könnte. Der Wermutstropfen? Die Zeiten, in denen man dieses Fleckchen Erde nur für sich haben konnte, sind endgültig vorbei. Es sei denn, man betreibe wirklichen „Andinismo“ (kein Schreibfehler, man spricht hier in der Tat nicht von „Alpinismus", man besteigt ja schließlich die Anden).
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Einer der Ersten, die vom Fitzroy-Massiv in den Bann gezogen wurden, war Andreas Madsen, ein dänischer Seemann und Abenteurer, der sich am Anfang des Ersten Weltkriegs im Schatten des Gipfels niederließ und die Estancia Cerro FitzRoy grün­de­te. Bild vergrössernEr war im Auftrag der argentinischen Regierung gekommen, um das Land zu ver­messen – und blieb ein Leben lang. „Wenn ich den Berg sehe, verbeuge ich mich mit Ehrfurcht", schrieb Madsen in sein Tagebuch. „Denn ich weiß, Gott ist gleich neben mir."
Der FitzRoy wurde erst im Jahr 1952 zum ersten Mal bezwungen. Die Franzosen Lionel Terray und Guido Magnone brauchten mehrere Versuche und verloren beim Anmarsch einen ihrer Gefährten.

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