Montag, 10. November
Salta
Als der Flieger in Salta ankommt, ist es bereits spät am Abend. Taxis (bzw. Remises) kann man an ei­nem Schalter in der Ankunftshalle bestellen. „Pre­ven­gase de delitos, utilice remises ofi­ciales“ (Beu­gen Sie Verbrechen vor! Be­nut­zen Sie offi­ziel­len Remises), ist dort in Riesenlettern zu lesen.
Es regnet. Während mich das Remise vom Flug­hafen ins Hotel bringt, schlittert meine Laune in den Keller. Ich kann zu dieser späten Zeit nur die Lichter der Stadt sehen und gerade eine Ahnung von dem bekommen, was sich darunter verbirgt. Und das sieht nach einer he­run­ter­ge­kommen, hässlichen Stadt aus. Mein übers Internet ge­fun­dene und per Telefon re­ser­vier­te Hotel „Re­fu­gio del Inca“ entpuppt sich hingegen als eine be­schei­de­ne, aber saubere Bleibe.
Dienstag, 11. November
Salta
Eine bakterielle Enteritis schafft es zwar nicht, mich völlig lahm zu legen, sie be­stimmt aber das Tempo meiner Aktivitäten. Gut, dass ich reichlich mit Rei­se­lektüre versorgt bin. Mein Eindruck von gestern Abend bestätigt sich. Trotz seiner 460.000 Einwohner wirkt Salta auf mich wie ein kleines, un­be­deutendes Provinzstädtchen, dessen Charme – die Reisehandbücher schwär­men von ihrer alten spanischen Kolonialarchitektur – sich mir zunächst verbirgt. "Salta la Linda“ (Salta, die Schö­ne) wird sie genannt. Sie liegt auf einer Höhe von 1187 Metern über dem Meeresspiegel in einem sehr weiten Tal und ist von Bergen um­ge­ben.
Reiterdenkmal von Antonio Álvarez de Arenales
Der Mittelpunkt der Stadt ist die Plaza 9 de Julio, und es ist hier und in der unmittelbaren Um­gebung, wo sich noch einige – aber nicht allzu viele – bau­liche Zeugnisse der Kolonialzeit finden, wie die neo­barocke die Kathedrale von Salta (Ca­te­dral Santuario Nuestro Señor y la Virgen del Milagro).
Außerden das 1626 entstan­dene cabildo (Rat­haus) und, abseits des Zentrums, die rotgoldene Ba­rock­kirche San Francisco, die zum eigentlichen Wahrzeichen Saltas geworden ist.
Die Kirche von San Francisco
Vor allem der Hauptplatz hat es mir mit seinem kleinen Park, seinen Arkaden und den breiten be­flies­ten Bürgersteigen angetan.
Ich verbringe die meiste Zeit im Café. Bei einem cafesito oder empanadas lässt sich gemütlich „La Nacion“ oder den Reiseführer lesen, Menschen beo­bach­ten und weitere Reisepläne schmieden.
Ich nutze auch die Gelegenheit, um etwas Shop­ping zu be­trei­ben. Besonders schön sind hier die Silberwaren und der Schmuck mit dem argen­ti­nischen Na­tio­nal­stein, dem rosafarbenen Rhodochrosit.
Mittwoch, 12. November
Cerro San Bernardo, Salta
Auf dieser Aussichtsplattform, von der ich das Panorama der Stadt Salta ge­nie­ßen kann, ist es windig und lau. Eine düstere, bleierne Wol­ken­decke lässt jeden Augen­blick den er­sten Re­gen­guss erwarten. Die „wahre“ Stadt liegt drei­hun­dert Meter tiefer. Hier ist Touristenzone. Ame­ri­ka­nisches Englisch, Deutsch und Fran­zö­sisch sind die Sprachen, die ich rund um mich zu hören bekomme.
Freilich ist die Aussicht trotz des Wetters (oder gerade deshalb?) spektakulär! Eine Christus-Statue auf einer Säule blickt von oben auf die Stadt, als sollte dies zu jeder Tageszeit beschützt werden.
Aussicht auf Salta
Wäre da nicht unmittelbar neben der Gon­del­bahn-Berg­sta­tion ein kleiner sehr gepflegter Park, würde ich die südländisch-tropische Atmosphäre, die ich unten in der Stadt überall empfunden habe, völlig vermissen. Aber es reicht, dass ich die lila Blüten eines Jacarandà-Baum sehe, und es ist um mich geschehen. Mein Lieblingsbaum im argentinischen Frühling! Überall im Lande (außer in Patagonien) setzt jetzt der exotische Baum seine Farbakzente.
Jacaranda mimosifolia
Ein weiterer Baum, bei dem mich vor allem die Blätter entzücken, nennt sich – das kann ich auf einem Schild le­sen – Anadenanthera colubrina ). Er gehärt auch zur Familie der Mimosen. Die Blätter sind doppelt gefiedert mit sehr sehr vie­len, kleinen und länglichen, leicht be­wim­per­ten Blättchen. Filigrane Kunstwerke!
Anadenanthera colubrina
Noch ist die Luft lau, noch kann ich diese fast un­wirk­liche Atmos­phäre ge­nie­ßen, die mich ei­ner­seits „weit, weit weg“ fühlen lässt, andrerseits durch die touristische Ge­zähmtheit dieses Cafés anheimelnd wirkt. Den Weg zurück gehe ich zu gemächlich Fuß.
Nüchternheit
Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Trotz der Menschen, die bis auf wenige Ausnahmen das Erbe amerikanischer Indianer in ihren Zügen zeigen, trotz der Reste kolonialer Architektur, die meine Fantasie in verklärter Form in frühere Zeiten zurückführen und obwohl die Armut, die an ganz vielen De­tails zu erkenne ist und ei­gent­lich den Eindruck einer „anderen“, „frem­den“ Welt suggerieren müsste, hat mir die­se Stadt bisher nie das prickelndes Gefühl verschafft, das ich mit dem Wort „Exotik“ assoziiere.
Argentinien ist letztlich ein sehr stark westlich geprägtes Land mit den unüber­seh­baren Zügen einer Konsum­ge­sellschaft. Mädchen tippen auf ihren Handys herum, Halb­wüch­si­ge un­ter­schei­den sich in ihrer Kleidung kaum von europäischen Gleichaltrigen, Jugendliche ver­su­chen mit der Lautstärke ihrer Motorräder die Langeweile zu überwinden. Auch hier hat das Auto die Vor­herrschaft in der Stadt längst übernommen.
Donnerstag, 13. November
Santa Evita
Während ich in einer Bar auf der Plaza 9 de Julio ein kühles Bier genieße und dazu köstliche em­pa­nadas de carne (mit Rindfleischfüllung), oder de jamón y queso (mit Schinken und Käse) ver­zeh­re, folge ich fasziniert der Erzählung von Tomas Eloy Martinez, der in seinem Bestseller „Santa Evita“ die Odyssee von Evita Perons Leichnam schildert. Bereits zu ihrer Lebzeit hatte Eva Peron die leb­haftesten Vorstellungen auf sich gezogen. Was sich aber nach ihrem Tod abspielte, sprengte jedes Maß: Ihr Körper wurde ein­bal­sa­miert, versteckt, gejagt und quer durch die Welt geschickt.
Eva Duarte de Perón, dieses Aschenputtel, das zur Königin wurde, war schon zu Lebzeiten zu ei­nem gefeierten Mythos und zum Mit­telpunkt eines unglaublichen Personenkults ge­wor­den. Auch heute noch ist Evita in Ar­gen­ti­nien eine Legende. Sie gilt für einen großen Teil ihrer Landsleute, Männer wie Frauen, immer noch als die große Wohltäterin der Nation.
Als Evita Peron 1952 an Krebs starb, wurde ihr Leichnam zu einer politischen Waffe. Er erlangte eine größere Bedeutung, als es Evita während ihres Lebens je gehabt hatte. Juan Peron wusste von der Beliebtheit seiner schönen Frau bei den Armen. Mit ihrer Einbal­sa­mie­rung hoffte er, die Erinnerung an sie zu ver­ewi­gen und damit den Peronismus auch für die Zukunft zu stärken.
Drei Jahre lang arbeitete der bekannte spanische Pathologe Pedro Ara, um sie zu zu präparieren,  mit großer Sorgfalt ging er an die Einbal­sa­mie­rung. „Er war ihr verfallen“, schrieb Eloy Marti­nez. „Er hätte ewig an ihr arbeiten wol­len."  Ara kam (laut Eloy Martinez) auf die Idee, drei täu­schend echte Wachskopien der Leiche anzu­fer­ti­gen.
Dr. Pedro Ara und Eva Perons Leiche
Die echte Leiche wurde zunächst im Gebäude des pero­nis­ti­schen Ge­werk­schaftsbundes CGT auf­ge­bahrt. Die Militärs, die Juan Domingo Peron 1955 gestürzt hatten, fürchteten sich sehr vor der Aus­strah­lung, die Evita auch als Tote noch hatte, und besonders davor, dass sich das Volk ihres Leich­nams bemächtigen und es in De­mons­tra­tions­zügen durch die Stadt tragen könnte. Den Leich­nam zu ver­nich­ten, das trauten sie sich nicht, sie be­mächtigten sich nur der Toten und verwahrten sie bis zur Entscheidung über ihr endgültiges Schick­sal an einem ver­meint­lich sicheren Ort. Als dieser den Macht­ha­bern zu unsicher wurde, karrten sie die Mumie ta­gelang in einem Lastwagen kreuz und quer durch Buenos Aires, um ihre Spuren zu ver­wischen.

BUCHEMPFEHLUNG
Santa Evita Eva Perón alias Evita wurde zu Lebzeiten als argentinische Göttin und nach ihrem frühen Tod als Heilige der Armen gefeiert. Ihr Leben wurde zum Mythos, ihr ein­bal­sa­mier­ter Körper zur Reliquie. Virtuos, erzähl­mächtig und ironisch verbindet Tomás Eloy Martínez in seinem Meis­terwerk Biografie, Klatsch und Legende: ›Santa Evita‹ ist der Roman Argentiniens.

Aber wo immer der Leichnam auch hin­gebracht wurde, es tauchten dort nach kurzer Zeit Blumen und Ker­zen auf. Mehrmals wurde der be­auf­tragte Oberst von anonymen Briefen bedroht. Er solle sich kei­nesfalls allzusehr Evita nähern. Kurz darauf ließen die Militärs den Leichnam ver­schwin­den und es be­gann die absurde, ma­ka­bre Odys­see von Evitas Särge durch ver­schie­dene Län­der der Welt, unter anderen Ba­yern. Jahre­lang gingen die verschie­den­sten Ge­rüch­te über Verbleib des „Ori­ginals“ durch die Weltpresse.
Nach vielen Jahren stellte sich heraus, dass die echte Evita unter dem Namen Maria Maggi de Ma­gistris auf einem Friedhof in Mailand ruhte. Im September 1971 wurde sie heim­lich nach Madrid gebracht, in das Haus, in dem General Perón im Exil lebte. Aber erst 1974, nach dem Tod Peróns, der 1973 nach Argen­ti­nien zu­rück­gekehrt und zum zweiten Mal Präsident geworden war, ließ seine Witwe Isabel Evitas Leichnam nach Bue­nos Aires holen und in der Präsidentschaftsresidenz Olivos bestatten. Und erst 1976, 24 Jahre nach ihrem Tod und zwei Jah­re nach dem Tod ihres Gatten, fand Evita ihre letzte Ru­he­stätte: Weil die Militärs, die durch einen Putsch ge­gen Perons Witwe an die Macht gekommen waren, fürch­teten, dass sich linkspe­ro­nis­tische Guer­ril­leros der Toten be­mäch­tigen könnten, ließen sie Evita auf dem Pro­minenten-Friedhof La Reco­leta in Buenos Aires endgültig beisetzen.
Noch heute suchen jeden Tag Verehrer das Grab auf, legen Blumen und Heili­gen­bildchen für die Angebetete nieder. In vielen Häusern weitab von den vornehmen Vierteln Buenos Aires' kann man neben dem Jesusbild auch heute noch ein Foto der Volksheiligen Evita auffinden.
Armut
Zum wiederholten Mal schleppt sich ein Geh­behinderter durch die Tischreihen, völlig igno­riert von seinen Landsleuten und von den salopp an­ge­zogenen Touristen. Steckte ich ihm nicht ei­nige Pesos in die Hemdtasche, würde mich das Ge­wis­sen plagen. Kurz darauf geht eine armselig ge­klei­dete junge Frau schüchtern von Tisch zu Tisch und zeigt den Gästen einen Stapel Wahr­sa­ge­karten, von denen man sich eine vom eigenen Stern­zei­chen aus­su­chen kann. „Diez Centavos“, flüstert sie, dass man es kaum hören kann – zwei­ein­halb Eu­ro-Cent für die Zu­kunfts­vor­aus­sage, von einer, die selbst gar keine Zu­kunft hat.
Etwas später ist ein kleines Mädchen an der Reihe, die mir billigen Schmuck ver­kaufen möch­te. Ich habe sie bereits heute Morgen von Café zu Café gehen sehen. Kaum zu vermuten, dass sie viel verkaufe. Am Nach­bar­tisch haben die Gäste beim Weggehen Reste eines Sandwichs liegen lassen. Norma­ler­wei­se sind es die Tauben, die sich mit großer Frechheit an die Speisereste machen. Diesmal ist es aber die klei­ne Schmuck­ver­käu­ferin, die sich dieser annimmt und in eine Plastiktüte einpackt. Täusche ich mich, oder ich sehe ein Leuchten in ihren Augen?
Es sind Menschen wie diese, die vor über sechzig Jahren die große An­hän­ger­schaft von Evita bil­de­ten. Seit jener Zeit hat es keine der Militärjuntas oder der mehr oder wenig demokratisch ge­wähl­ten Regierungen geschafft, die Armut zu be­kämp­fen. Der Mythos von Evita bleibt, und sei es in Form eines Musicals, der derzeit in einem Theater Buenos Aires' läuft. Menschen stehen Schlan­ge, um Eintrittskarten zu ergattern.
Freitag, 14, November
Menschen in Salta
Zwei Pesos und 57 Centavos (etwa 65 Euro-Cents) für eine Fahrt von etwa eineinhalb Ki­lo­metern. Der Fahrer, der mich vom Bus-Terminal zurück ins Hotel fährt, rundet den Ta­xa­me­ter­be­trag so­gar von 4,43 auf 4 Pesos ab. Klar, dass ich das nicht zulassen kann! Etwa 45 Pesos verdiene er pro Tag, meint er. Kann man davon eine Familie ernähren?
Der untersetzte Indio mit vor Haargel glänzenden schwar­zen Haa­ren spaziert ins Restaurant, geht von Tisch zu Tisch und bietet den Gästen kleine Plas­tik­beu­tel mit Coca-Blättern zum Verkauf an. Sie seien „buenos por el esto­mago“ (gut für den Ma­gen), meint er.
Die Schuhputzer
Als ich am kleinen Café am Hauptplatz vor­bei­gehe, strahlt mich die junge Kellnerin schon von der Ferne an. Ob ich denn nicht auf ein cafesito kommen möchte? Wie gerne! Aber es kann ja sicher auch etwas anderes sein, habe ich mich doch an diesem verregneten Nachmittag bereits seit Stunden von einem Cafe zum anderen ge­schleppt. Dabei redet es so gerne mit mir, das junge Mädchen, das einen Freund im bayerischen Unterhaching hat. Noch heute habe sie mit ihm te­lefoniert! Bald wolle er sie wieder besuchen kommen. Im August sei sie selbst zu Besuch in München gewe­sen. Aber was für eine Kälte sei dort gewesen!

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Samstag, 15. November
La Virgen del Cerro
Seit vielen Jahren – so wird behauptet – er­scheint einer einfachen Hausfrau und Mutter von drei Kindern aus Salta die Heilige Jungfrau Maria. Maria Livia Galeano de Obeid, inzwischen 59-jährig, erzählte, dass ihr dies zum ersten Mal im Jahr 1990 ge­sche­hen sei. Sie habe die Muttergottes, die ihr wie ein wunder­schönes, von einem strah­lenden Glorien­schein um­ge­be­nes, etwa 14-jäh­riges Mädchen er­schien, sowohl gesehen als auch gehört. Seit damals hätten die Dialoge mit der Jungfrau in re­gel­mä­ßigen Ab­ständen immer wieder statt­ge­funden.
Im gleichen Tempo wie die Berichte über erfolgte Wunder und Wunderheilungen, nahm in den folgenden Jahren auch die Anzahl der Anhänger von Maria Livia rasant zu. Allerdings auch die An­zahl der Zweifler. Glücklicherweise hatte Maria Livia zum Zeit­punkt der ersten Erscheinung die Geistesgegenwart, zur Kamera zu greifen und die Erscheinung zu foto­gra­fieren.
In den folgenden Jahren fuhr die Muttergottes weiterhin fort, der Frau zu erscheinen, und ihr zahlreiche Botschaften zu über­mit­teln. 1997 gab der Erzbischof von Salta, Moisés Julio Blanchoud, die Erlaubnis, diese Botschaften in einem Buch zu veröffentlichen, das - wen wundert's? - in null Komma nichts zu einem Bestseller wurde. Im Jahr 2000 ersuchte die Jungfrau Maria Livia, eine Wall­fahrtskirche auf einem Hügel in Tres Cerritos errichten zu lassen.
Die Pilgerstätte wurde im Eiltempo errichtet, und seit dem sie Ende 2001 fertiggestellt wurde, emp­fängt Maria Livia die Gläubigen, die Neu­gie­ri­gen und die Verzweifelten in einer herr­lich im Grünen liegenden Lichtung auf einer Bergkuppe oberhalb von Salta.
Jeden Samstag kommen ganze Busladungen von Besuchern aus Salta, aus Buenos Aires und aus ganz Argentinien zum „heiligen“ Berg - bis zu 30.000 Pilger können es manchmal sein. Sie kom­men, weil sie diese Frau sehen wollen, weil sie von ihr berührt werden wollen, und weil sie hoffen, dass durch ihre Vermittlung die Jungfrau Maria ihre Gebete erhört.
Gläubige warten auf die „Heilige“
Vom Busparkplatz bis hinauf zur Wallfahrtskapelle ist noch etwa ein Kilometer zu Fuß zu bewäl­ti­gen. Umgeben von einem ununterbrochenen Strom von Pilgern stapfe ich mühsam in einem lichten Wäldchen den Berg hinauf. Dort erwartet mich bereits das Gebetsgemurmel von Tausenden von Pilgern. Ich bewundere (und liebe) die Cho­reo­gra­phie der katholischen Kirche!
Wie hypnotisierend wirkt dieses rezi­tierte „Dios te salve María, llena eres de gracia, …", dem Hun­der­te von Stimmen mit „Santa María madre de Dios, ruega por nosotros pecadores, …“ antworten in nicht enden wol­len­den Wieder­ho­lun­gen. Selbst bei einem Ungläubigen wie mir komm ein Kribbeln in der Seele auf.
Die Beichte
Nach Stunden des Rosenkranzbetens und leiser Musik aus den Lautsprechern, warten sie alle auf das Hauptereignis des Tages. Am frühen Nach­mittag er­scheint dann endlich Maria Livia. Leider konnte ich mich selbst als fingierter Pres­se­fo­tograf nicht genug nach vorne kämpfen, um die Se­gnungen der Hei­li­gen aus aller ersten Nähe zu erleben, geschweige denn zu fo­to­gra­fie­ren. Denn während der Fürbitte und der Gebete sei es nicht erlaubt zu foto­gra­fie­ren. So erklärt es mir je­den­falls eine vor lauter Frömmig­keit und engel­hafter Lieb­lichkeit einem halben Meter über dem Boden schwebende freiwillige Helferin.
Der Höhepunkt ist gekommen. Die Gläubigen, vielen von ihnen im Rollstuhl, andere mit Klein­kin­dern in den Armen, alle aber mit pochenden Herzen, stehen vor der „Heiligen“ Schlange, um ihren Segen zu Empfangen. Maria Livia berührt jeden Pilger mit Kraft an den Schultern, sieht ihn kurz an, dann schließt sie wie inspiriert die Augen. Ein Moment, und schon ist der nächste dran. Die Meisten de Beglückten weinen leise vor sich hin, andere sinken ohnmächtig zu Boden, während hilfreiche Hände sie auffangen.
Mich irritiert dabei, dass einer der Veran­stal­ter die Handlungen der Heilerin von allergrößter Nähe auf Video aufnimmt. Penetrant und ohne jegliche Scham hält er die Kamera den Kranken, Be­hin­derten und Frommen vor die Nase, um das Auf­le­gen der heilenden Hand und die Ver­zückung der Ge­sich­ter ausreichend und porentief zu dokumentieren. Aufnahmen also doch erlaubt? Nur eine Sache des Copyrights? Dass Presse und Filmteams nicht gerne gesehen werden, ist aller­dings ver­ständ­lich, sehen doch Kritiker hinter dem Phä­nomen „Virgen del Cerro“ nur eine kluge Geschäftsidee. Man denke nur an die Dutzenden von Bussen, die jeden Samstag den „Santuario“ aufsuchen und an die entsprechend aus­ge­buch­ten Hotels!
Die „Darstellung“ geht ihrem Ende zu. Wie es zu jeder guten Thea­ter­ins­ze­nie­rung gehört, darf das dramatische Element nicht fehlen. Wäh­rend Maria Livia ihren Segen erteilt, kommen düstere Wol­ken auf den Berg­gipfel zu, Gewittergrollen droht aus der Ferne, und ein eisiger Wind, der mir in den verschwitzten Rücken kriecht, lässt mich an das Geschehen auf dem Golgatha denken.